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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Ausdruck, aber doch ohne spezifisch bedeutenden Ausdruck werfen, und
daher mit Vorliebe das Nackte behandeln; indem er nun, je weniger es
hier um bestimmten geistigen Inhalt, anziehende Besonderheit, Eigenheit
der Individualität zu thun ist, desto mehr die Gestalt an sich ideal erhöhen
muß, so ist er es besonders, der die mythischen Stoffe, vorzüglich die
classischen, liebt, wie dieß zu §. 695, 2. an Titians Beispiel gezeigt ist.
Als mit der neuen humanistischen Bildung dem gelichteten Geiste die
Schönheit der Welt, des Sinnenlebens aufgieng, warf sich die Kunst mit
der Wärme des innerlich gewordenen Lebens auf die Gestalten des Olymp
und durchglühte mit neuem Feuer die kalten Marmorgebilde des Alterthums.
Raphael malte die Galatea, den Mythus von Amor und Psyche, M. Angelo
die Venus und Leda, Correggio seine üppige Leda, Danae, Jo, die
Venetianer mit ihrem festlich sinnenfrohen Geiste folgten. Zauber der Farbe
und des Helldunkels stehen nicht in Widerspruch mit der Natur des plasti-
schen Styls, denn sie werden hier noch nicht in der streng malerischen
Richtung verwendet, wo sie dienen, die Härten der Besonderheit und
Individualität mit dem Accente des geistigen Lichts zu übergießen. Dieß
thut dann der entgegengesetzte Styl, den wir nicht weiter zu schildern
brauchen. -- Hervorzuheben ist noch, wie sich diese Gegensätze mit dem
Unterschiede des Materials in Beziehung setzen. Daß das plastisch be-
handelte Sittenbild wie zur größeren Dimension, so zur Freske geeignet ist,
haben wir schon zu §. 661, 2. ausgesprochen. Das ächt malerisch aufgefaßte
ist durch die Natur der Sache auf kleineren Maaßstab angewiesen (s. ebenda)
und so der eigentliche Hauptgegenstand der Kabinets-Malerei. Was
aber die technische Behandlung betrifft, so ist im Unterschiede der Stoffe
auch ein weiterer Unterschied in der Behandlung des in die Fülle des
realen Scheins hineinführenden Materials der Oelfarbe begründet: für das
rohere Treiben der gröberen Stände der kecke, leichte, geistreiche, für die
Sphäre der feineren Sitte und des tieferen Seelenlebens der sorgfältige,
zarte, feine in das Einzelne gehende Pinsel (vergl. Schnaase a. a. O. S. 82.)
Die sinnige Art der Belauschung trägt sich in dieser zweiten Form vom
Menschen auch auf das Umgebende über (vergl. §. 704, 2.) Der künstlerische
Diebstahl an den Geheimnissen der Naturstoffe, der Glanzlichter von Metall,
Glas, Sammt, Atlas u. s. w. ist der natürliche Reflex des Diebstahls
am Menschen, den Dingen wird wie der Menschenseele ihr Eigenstes
entführt und im künstlerischen Scheine wieder herausgegeben.

§. 707.

Das Sittenbild verknüpft sich in mannigfachen Uebergängen mit der Land-
schaft und dem Thierstück, aber auch hier soll die Verbindung eine solche sein,

Ausdruck, aber doch ohne ſpezifiſch bedeutenden Ausdruck werfen, und
daher mit Vorliebe das Nackte behandeln; indem er nun, je weniger es
hier um beſtimmten geiſtigen Inhalt, anziehende Beſonderheit, Eigenheit
der Individualität zu thun iſt, deſto mehr die Geſtalt an ſich ideal erhöhen
muß, ſo iſt er es beſonders, der die mythiſchen Stoffe, vorzüglich die
claſſiſchen, liebt, wie dieß zu §. 695, 2. an Titians Beiſpiel gezeigt iſt.
Als mit der neuen humaniſtiſchen Bildung dem gelichteten Geiſte die
Schönheit der Welt, des Sinnenlebens aufgieng, warf ſich die Kunſt mit
der Wärme des innerlich gewordenen Lebens auf die Geſtalten des Olymp
und durchglühte mit neuem Feuer die kalten Marmorgebilde des Alterthums.
Raphael malte die Galatea, den Mythus von Amor und Pſyche, M. Angelo
die Venus und Leda, Correggio ſeine üppige Leda, Danae, Jo, die
Venetianer mit ihrem feſtlich ſinnenfrohen Geiſte folgten. Zauber der Farbe
und des Helldunkels ſtehen nicht in Widerſpruch mit der Natur des plaſti-
ſchen Styls, denn ſie werden hier noch nicht in der ſtreng maleriſchen
Richtung verwendet, wo ſie dienen, die Härten der Beſonderheit und
Individualität mit dem Accente des geiſtigen Lichts zu übergießen. Dieß
thut dann der entgegengeſetzte Styl, den wir nicht weiter zu ſchildern
brauchen. — Hervorzuheben iſt noch, wie ſich dieſe Gegenſätze mit dem
Unterſchiede des Materials in Beziehung ſetzen. Daß das plaſtiſch be-
handelte Sittenbild wie zur größeren Dimenſion, ſo zur Freske geeignet iſt,
haben wir ſchon zu §. 661, 2. ausgeſprochen. Das ächt maleriſch aufgefaßte
iſt durch die Natur der Sache auf kleineren Maaßſtab angewieſen (ſ. ebenda)
und ſo der eigentliche Hauptgegenſtand der Kabinets-Malerei. Was
aber die techniſche Behandlung betrifft, ſo iſt im Unterſchiede der Stoffe
auch ein weiterer Unterſchied in der Behandlung des in die Fülle des
realen Scheins hineinführenden Materials der Oelfarbe begründet: für das
rohere Treiben der gröberen Stände der kecke, leichte, geiſtreiche, für die
Sphäre der feineren Sitte und des tieferen Seelenlebens der ſorgfältige,
zarte, feine in das Einzelne gehende Pinſel (vergl. Schnaaſe a. a. O. S. 82.)
Die ſinnige Art der Belauſchung trägt ſich in dieſer zweiten Form vom
Menſchen auch auf das Umgebende über (vergl. §. 704, 2.) Der künſtleriſche
Diebſtahl an den Geheimniſſen der Naturſtoffe, der Glanzlichter von Metall,
Glas, Sammt, Atlas u. ſ. w. iſt der natürliche Reflex des Diebſtahls
am Menſchen, den Dingen wird wie der Menſchenſeele ihr Eigenſtes
entführt und im künſtleriſchen Scheine wieder herausgegeben.

§. 707.

Das Sittenbild verknüpft ſich in mannigfachen Uebergängen mit der Land-
ſchaft und dem Thierſtück, aber auch hier ſoll die Verbindung eine ſolche ſein,

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[673/0181] Ausdruck, aber doch ohne ſpezifiſch bedeutenden Ausdruck werfen, und daher mit Vorliebe das Nackte behandeln; indem er nun, je weniger es hier um beſtimmten geiſtigen Inhalt, anziehende Beſonderheit, Eigenheit der Individualität zu thun iſt, deſto mehr die Geſtalt an ſich ideal erhöhen muß, ſo iſt er es beſonders, der die mythiſchen Stoffe, vorzüglich die claſſiſchen, liebt, wie dieß zu §. 695, 2. an Titians Beiſpiel gezeigt iſt. Als mit der neuen humaniſtiſchen Bildung dem gelichteten Geiſte die Schönheit der Welt, des Sinnenlebens aufgieng, warf ſich die Kunſt mit der Wärme des innerlich gewordenen Lebens auf die Geſtalten des Olymp und durchglühte mit neuem Feuer die kalten Marmorgebilde des Alterthums. Raphael malte die Galatea, den Mythus von Amor und Pſyche, M. Angelo die Venus und Leda, Correggio ſeine üppige Leda, Danae, Jo, die Venetianer mit ihrem feſtlich ſinnenfrohen Geiſte folgten. Zauber der Farbe und des Helldunkels ſtehen nicht in Widerſpruch mit der Natur des plaſti- ſchen Styls, denn ſie werden hier noch nicht in der ſtreng maleriſchen Richtung verwendet, wo ſie dienen, die Härten der Beſonderheit und Individualität mit dem Accente des geiſtigen Lichts zu übergießen. Dieß thut dann der entgegengeſetzte Styl, den wir nicht weiter zu ſchildern brauchen. — Hervorzuheben iſt noch, wie ſich dieſe Gegenſätze mit dem Unterſchiede des Materials in Beziehung ſetzen. Daß das plaſtiſch be- handelte Sittenbild wie zur größeren Dimenſion, ſo zur Freske geeignet iſt, haben wir ſchon zu §. 661, 2. ausgeſprochen. Das ächt maleriſch aufgefaßte iſt durch die Natur der Sache auf kleineren Maaßſtab angewieſen (ſ. ebenda) und ſo der eigentliche Hauptgegenſtand der Kabinets-Malerei. Was aber die techniſche Behandlung betrifft, ſo iſt im Unterſchiede der Stoffe auch ein weiterer Unterſchied in der Behandlung des in die Fülle des realen Scheins hineinführenden Materials der Oelfarbe begründet: für das rohere Treiben der gröberen Stände der kecke, leichte, geiſtreiche, für die Sphäre der feineren Sitte und des tieferen Seelenlebens der ſorgfältige, zarte, feine in das Einzelne gehende Pinſel (vergl. Schnaaſe a. a. O. S. 82.) Die ſinnige Art der Belauſchung trägt ſich in dieſer zweiten Form vom Menſchen auch auf das Umgebende über (vergl. §. 704, 2.) Der künſtleriſche Diebſtahl an den Geheimniſſen der Naturſtoffe, der Glanzlichter von Metall, Glas, Sammt, Atlas u. ſ. w. iſt der natürliche Reflex des Diebſtahls am Menſchen, den Dingen wird wie der Menſchenſeele ihr Eigenſtes entführt und im künſtleriſchen Scheine wieder herausgegeben. §. 707. Das Sittenbild verknüpft ſich in mannigfachen Uebergängen mit der Land- ſchaft und dem Thierſtück, aber auch hier ſoll die Verbindung eine ſolche ſein,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 673. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/181>, abgerufen am 25.04.2024.