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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Bei einer so tief verwandten Vergangenheit, wie jene Zeitepoche, treffen
denn alle Bedingungen besonders günstig zusammen und die Schwierig-
keit bleibt nur, daß die Ungunst der umgebenden Culturformen dem Künst-
ler auch die lebendige Vorstellung der vergangenen günstigen erschwert;
doch dieß ist zwar eine Schwierigkeit, aber kein völliges Hinderniß
(Guhl a. a. O. S. 85 u. 182 hat eine Aeußerung desselben Inhalts
in d. Krit. Gängen Theil 2 S. 29 mißverstanden). Auch die großen
Stoffe der modernen Zeit, die Momente, wo die Idee mit so schneidender
Gewalt ihre Furchen gezogen hat, kann sich der Künstler durch diesen
Uebelstand nicht rauben lassen. Es ist insbesondere der Krieg, der die
phantasielosen Formen immer lüftet. Nicht leicht befriedigt ein neueres
Werk der Geschichtsmalerei alle Ansprüche, die wir an diesen Zweig stel-
len, so vollständig, wie Leutze's Ueberfahrt des Washington über den
Delaware. Der kühne Waffenstreich ist nicht groß an sich, aber entscheidend
genug, um ungesucht das Schicksal, die Zukunft, die Idee Amerika's daran
zu knüpfen, die angestrengte Fahrt der tapferen Männer durch das
Treibeis ein voller Ausdruck der eisern entschlossenen amerikanischen Natur,
die kalte, winterliche Lust wirkt mit dem Thun und dem unerbittlich wa-
genden Ausdruck der Krieger und Bootsmänner, in deren Mitte der Feld-
herr leicht, schlicht und doch lauter Geist und Unternehmung, aufgerichtet
steht, harmonisch zusammen, uns ein Bild zu geben, das durch und durch
straff, adstringirend, eisen- und stahl-haltig ist, wie der Charakter Ameri-
ka's, die Tracht ist malerisch nicht bestechend, aber natürlich und bewegt
genug, um der prunklosen Größe und Kraft die würdige Hülle zu leihen.

3. Die Heldensage versetzt ihre Heroen, mögen es nun in Menschen
umgewandelte Götter oder aus geschichtlichen Grundlagen entwickelte Ty-
pen nationaler Charakterzüge sein, in den, zwar von der Phantasie ver-
einfachten, Complex der natürlichen und historischen Bedingungen hinein
und gibt ihnen die volle Lebensfähigkeit, die der Maler bedarf. Diese
sagenhaft verklärte Geschichte bringt den Stoff in idealer Zusammenziehung
dem Maler schon halb verarbeitet entgegen, wie dem Dichter. Mythus
mischt sich ein, aber nur nebenher, die Motivirung ist im Wesentlichen
naturgemäß menschlich. Cornelius hat sein Bedeutendstes, Reinstes in
deutscher und griechischer Heldensage, dort nur in Skizzenform, hier in
ausgeführter Freske geleistet; Schnorr hat die Stoffe der ersteren in großen
Wandgemälden würdig entfaltet. Die Quelle fließt noch reich und ihre
Motive haben den großen Vortheil, daß sie den besonderen Charakter der
Unerschöpflichkeit in immer neuen Auffassungen tragen wie alles Urge-
waltige. -- Die Dichtung ist auch hier (vergl. §. 703 Anm.) nur der
Kürze wegen wie eine Quelle neben den andern hingestellt; logisch ver-
hält es sich so, daß sowohl die wirkliche Geschichte, als auch die Helden-

Bei einer ſo tief verwandten Vergangenheit, wie jene Zeitepoche, treffen
denn alle Bedingungen beſonders günſtig zuſammen und die Schwierig-
keit bleibt nur, daß die Ungunſt der umgebenden Culturformen dem Künſt-
ler auch die lebendige Vorſtellung der vergangenen günſtigen erſchwert;
doch dieß iſt zwar eine Schwierigkeit, aber kein völliges Hinderniß
(Guhl a. a. O. S. 85 u. 182 hat eine Aeußerung deſſelben Inhalts
in d. Krit. Gängen Theil 2 S. 29 mißverſtanden). Auch die großen
Stoffe der modernen Zeit, die Momente, wo die Idee mit ſo ſchneidender
Gewalt ihre Furchen gezogen hat, kann ſich der Künſtler durch dieſen
Uebelſtand nicht rauben laſſen. Es iſt insbeſondere der Krieg, der die
phantaſieloſen Formen immer lüftet. Nicht leicht befriedigt ein neueres
Werk der Geſchichtsmalerei alle Anſprüche, die wir an dieſen Zweig ſtel-
len, ſo vollſtändig, wie Leutze’s Ueberfahrt des Washington über den
Delaware. Der kühne Waffenſtreich iſt nicht groß an ſich, aber entſcheidend
genug, um ungeſucht das Schickſal, die Zukunft, die Idee Amerika’s daran
zu knüpfen, die angeſtrengte Fahrt der tapferen Männer durch das
Treibeis ein voller Ausdruck der eiſern entſchloſſenen amerikaniſchen Natur,
die kalte, winterliche Luſt wirkt mit dem Thun und dem unerbittlich wa-
genden Ausdruck der Krieger und Bootsmänner, in deren Mitte der Feld-
herr leicht, ſchlicht und doch lauter Geiſt und Unternehmung, aufgerichtet
ſteht, harmoniſch zuſammen, uns ein Bild zu geben, das durch und durch
ſtraff, adſtringirend, eiſen- und ſtahl-haltig iſt, wie der Charakter Ameri-
ka’s, die Tracht iſt maleriſch nicht beſtechend, aber natürlich und bewegt
genug, um der prunkloſen Größe und Kraft die würdige Hülle zu leihen.

3. Die Heldenſage verſetzt ihre Heroen, mögen es nun in Menſchen
umgewandelte Götter oder aus geſchichtlichen Grundlagen entwickelte Ty-
pen nationaler Charakterzüge ſein, in den, zwar von der Phantaſie ver-
einfachten, Complex der natürlichen und hiſtoriſchen Bedingungen hinein
und gibt ihnen die volle Lebensfähigkeit, die der Maler bedarf. Dieſe
ſagenhaft verklärte Geſchichte bringt den Stoff in idealer Zuſammenziehung
dem Maler ſchon halb verarbeitet entgegen, wie dem Dichter. Mythus
miſcht ſich ein, aber nur nebenher, die Motivirung iſt im Weſentlichen
naturgemäß menſchlich. Cornelius hat ſein Bedeutendſtes, Reinſtes in
deutſcher und griechiſcher Heldenſage, dort nur in Skizzenform, hier in
ausgeführter Freske geleiſtet; Schnorr hat die Stoffe der erſteren in großen
Wandgemälden würdig entfaltet. Die Quelle fließt noch reich und ihre
Motive haben den großen Vortheil, daß ſie den beſonderen Charakter der
Unerſchöpflichkeit in immer neuen Auffaſſungen tragen wie alles Urge-
waltige. — Die Dichtung iſt auch hier (vergl. §. 703 Anm.) nur der
Kürze wegen wie eine Quelle neben den andern hingeſtellt; logiſch ver-
hält es ſich ſo, daß ſowohl die wirkliche Geſchichte, als auch die Helden-

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[682/0190] Bei einer ſo tief verwandten Vergangenheit, wie jene Zeitepoche, treffen denn alle Bedingungen beſonders günſtig zuſammen und die Schwierig- keit bleibt nur, daß die Ungunſt der umgebenden Culturformen dem Künſt- ler auch die lebendige Vorſtellung der vergangenen günſtigen erſchwert; doch dieß iſt zwar eine Schwierigkeit, aber kein völliges Hinderniß (Guhl a. a. O. S. 85 u. 182 hat eine Aeußerung deſſelben Inhalts in d. Krit. Gängen Theil 2 S. 29 mißverſtanden). Auch die großen Stoffe der modernen Zeit, die Momente, wo die Idee mit ſo ſchneidender Gewalt ihre Furchen gezogen hat, kann ſich der Künſtler durch dieſen Uebelſtand nicht rauben laſſen. Es iſt insbeſondere der Krieg, der die phantaſieloſen Formen immer lüftet. Nicht leicht befriedigt ein neueres Werk der Geſchichtsmalerei alle Anſprüche, die wir an dieſen Zweig ſtel- len, ſo vollſtändig, wie Leutze’s Ueberfahrt des Washington über den Delaware. Der kühne Waffenſtreich iſt nicht groß an ſich, aber entſcheidend genug, um ungeſucht das Schickſal, die Zukunft, die Idee Amerika’s daran zu knüpfen, die angeſtrengte Fahrt der tapferen Männer durch das Treibeis ein voller Ausdruck der eiſern entſchloſſenen amerikaniſchen Natur, die kalte, winterliche Luſt wirkt mit dem Thun und dem unerbittlich wa- genden Ausdruck der Krieger und Bootsmänner, in deren Mitte der Feld- herr leicht, ſchlicht und doch lauter Geiſt und Unternehmung, aufgerichtet ſteht, harmoniſch zuſammen, uns ein Bild zu geben, das durch und durch ſtraff, adſtringirend, eiſen- und ſtahl-haltig iſt, wie der Charakter Ameri- ka’s, die Tracht iſt maleriſch nicht beſtechend, aber natürlich und bewegt genug, um der prunkloſen Größe und Kraft die würdige Hülle zu leihen. 3. Die Heldenſage verſetzt ihre Heroen, mögen es nun in Menſchen umgewandelte Götter oder aus geſchichtlichen Grundlagen entwickelte Ty- pen nationaler Charakterzüge ſein, in den, zwar von der Phantaſie ver- einfachten, Complex der natürlichen und hiſtoriſchen Bedingungen hinein und gibt ihnen die volle Lebensfähigkeit, die der Maler bedarf. Dieſe ſagenhaft verklärte Geſchichte bringt den Stoff in idealer Zuſammenziehung dem Maler ſchon halb verarbeitet entgegen, wie dem Dichter. Mythus miſcht ſich ein, aber nur nebenher, die Motivirung iſt im Weſentlichen naturgemäß menſchlich. Cornelius hat ſein Bedeutendſtes, Reinſtes in deutſcher und griechiſcher Heldenſage, dort nur in Skizzenform, hier in ausgeführter Freske geleiſtet; Schnorr hat die Stoffe der erſteren in großen Wandgemälden würdig entfaltet. Die Quelle fließt noch reich und ihre Motive haben den großen Vortheil, daß ſie den beſonderen Charakter der Unerſchöpflichkeit in immer neuen Auffaſſungen tragen wie alles Urge- waltige. — Die Dichtung iſt auch hier (vergl. §. 703 Anm.) nur der Kürze wegen wie eine Quelle neben den andern hingeſtellt; logiſch ver- hält es ſich ſo, daß ſowohl die wirkliche Geſchichte, als auch die Helden-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 682. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/190>, abgerufen am 29.03.2024.