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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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belebt zuerst die Gesichtszüge, während der Körper und die Gewandung
noch unverstanden, steif, dürftig, roh bleibt: der schlagende geschichtliche
Beweis für die Wahrheit, daß hier der Ausdruck über die Form herrscht.

1. Der italienische Styl.
§. 720.

Mit der ersten Beseelung jenes Typus tritt auch der Gegensatz der
Stylrichtungen ein. Das italienische Volk, durch Abstammung und Wohnsitz
in lebendigem Zusammenhang mit der classischen Kunst, bildet den plastisch
malerischen
Styl aus.

Der byzantinische Styl verbreitete sich über die ganze christliche Welt,
nach Italien, nach dem Norden, zu den Slaven, Walachen, Neugriechen.
Wir theilen aber von hier an die Geschichte der Malerei im Mittelalter
nach Nationalitäten in zwei Hälften, deren jede wir getrennt verfolgen.
Dieser Nationalitäts-Unterschied ist zugleich ein Styl-Unterschied; Italien
übernimmt die plastische, der germanische Norden die malerische Richtung:
ein Gegensatz, der aber jetzt innerhalb des betretenen Bodens des Male-
rischen auftritt. Die Italiener sind dasjenige romanische Volk, das in
lebendigerem Zusammenhange mit dem antiken Kunstgefühle bleibt. Das
Christenthum und das beigemischte deutsche Blut hat dem römischen Grund-
stocke, der übrigens schon ursprünglich einen fernen Anklang von Roman-
tischem zeigt (§. 442), den Geist der Innerlichkeit und Innigkeit geliehen,
ohne den es keinen Beruf zur Ausbildung der Malerei nach ihrer wahren
Bestimmung geben kann; das Blut der Ahnen, die umgebende Natur,
der Adel der Gestalten, die unmittelbare Anschauung der noch erhaltenen
Schätze der antiken Kunst sichert ihm aber einen unvertilgbar eigenen Schatz
jenes objectiven Bildungsgeistes, jenes reinen und harmonischen Form-
sinns, welcher nicht zuläßt, daß dieses Innerliche, die Quelle der über die
Form hinausgreifenden Tiefe des Ausdrucks, sich bis zu dem härteren,
im spezifisch malerischen Styl immer vorausgesetzten Bruch steigere, welcher
vielmehr auch das vertiefte Gemüth in warmem und ebenem Fluß in die
Gestalt herausführt, auch das einer neuen Welt der Unendlichkeit sich
bewußte Innere mit dem Aeußern in ein unmittelbar schönes Gleichgewicht
setzt. Dieß bleibt in allen den Mischungsverhältnissen der Momente, in
welche wir nun diese Richtung selbst sich spalten sehen, die feste, gemein-
schaftliche Grundlage.


belebt zuerſt die Geſichtszüge, während der Körper und die Gewandung
noch unverſtanden, ſteif, dürftig, roh bleibt: der ſchlagende geſchichtliche
Beweis für die Wahrheit, daß hier der Ausdruck über die Form herrſcht.

1. Der italieniſche Styl.
§. 720.

Mit der erſten Beſeelung jenes Typus tritt auch der Gegenſatz der
Stylrichtungen ein. Das italieniſche Volk, durch Abſtammung und Wohnſitz
in lebendigem Zuſammenhang mit der claſſiſchen Kunſt, bildet den plaſtiſch
maleriſchen
Styl aus.

Der byzantiniſche Styl verbreitete ſich über die ganze chriſtliche Welt,
nach Italien, nach dem Norden, zu den Slaven, Walachen, Neugriechen.
Wir theilen aber von hier an die Geſchichte der Malerei im Mittelalter
nach Nationalitäten in zwei Hälften, deren jede wir getrennt verfolgen.
Dieſer Nationalitäts-Unterſchied iſt zugleich ein Styl-Unterſchied; Italien
übernimmt die plaſtiſche, der germaniſche Norden die maleriſche Richtung:
ein Gegenſatz, der aber jetzt innerhalb des betretenen Bodens des Male-
riſchen auftritt. Die Italiener ſind dasjenige romaniſche Volk, das in
lebendigerem Zuſammenhange mit dem antiken Kunſtgefühle bleibt. Das
Chriſtenthum und das beigemiſchte deutſche Blut hat dem römiſchen Grund-
ſtocke, der übrigens ſchon urſprünglich einen fernen Anklang von Roman-
tiſchem zeigt (§. 442), den Geiſt der Innerlichkeit und Innigkeit geliehen,
ohne den es keinen Beruf zur Ausbildung der Malerei nach ihrer wahren
Beſtimmung geben kann; das Blut der Ahnen, die umgebende Natur,
der Adel der Geſtalten, die unmittelbare Anſchauung der noch erhaltenen
Schätze der antiken Kunſt ſichert ihm aber einen unvertilgbar eigenen Schatz
jenes objectiven Bildungsgeiſtes, jenes reinen und harmoniſchen Form-
ſinns, welcher nicht zuläßt, daß dieſes Innerliche, die Quelle der über die
Form hinausgreifenden Tiefe des Ausdrucks, ſich bis zu dem härteren,
im ſpezifiſch maleriſchen Styl immer vorausgeſetzten Bruch ſteigere, welcher
vielmehr auch das vertiefte Gemüth in warmem und ebenem Fluß in die
Geſtalt herausführt, auch das einer neuen Welt der Unendlichkeit ſich
bewußte Innere mit dem Aeußern in ein unmittelbar ſchönes Gleichgewicht
ſetzt. Dieß bleibt in allen den Miſchungsverhältniſſen der Momente, in
welche wir nun dieſe Richtung ſelbſt ſich ſpalten ſehen, die feſte, gemein-
ſchaftliche Grundlage.


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[704/0212] belebt zuerſt die Geſichtszüge, während der Körper und die Gewandung noch unverſtanden, ſteif, dürftig, roh bleibt: der ſchlagende geſchichtliche Beweis für die Wahrheit, daß hier der Ausdruck über die Form herrſcht. 1. Der italieniſche Styl. §. 720. Mit der erſten Beſeelung jenes Typus tritt auch der Gegenſatz der Stylrichtungen ein. Das italieniſche Volk, durch Abſtammung und Wohnſitz in lebendigem Zuſammenhang mit der claſſiſchen Kunſt, bildet den plaſtiſch maleriſchen Styl aus. Der byzantiniſche Styl verbreitete ſich über die ganze chriſtliche Welt, nach Italien, nach dem Norden, zu den Slaven, Walachen, Neugriechen. Wir theilen aber von hier an die Geſchichte der Malerei im Mittelalter nach Nationalitäten in zwei Hälften, deren jede wir getrennt verfolgen. Dieſer Nationalitäts-Unterſchied iſt zugleich ein Styl-Unterſchied; Italien übernimmt die plaſtiſche, der germaniſche Norden die maleriſche Richtung: ein Gegenſatz, der aber jetzt innerhalb des betretenen Bodens des Male- riſchen auftritt. Die Italiener ſind dasjenige romaniſche Volk, das in lebendigerem Zuſammenhange mit dem antiken Kunſtgefühle bleibt. Das Chriſtenthum und das beigemiſchte deutſche Blut hat dem römiſchen Grund- ſtocke, der übrigens ſchon urſprünglich einen fernen Anklang von Roman- tiſchem zeigt (§. 442), den Geiſt der Innerlichkeit und Innigkeit geliehen, ohne den es keinen Beruf zur Ausbildung der Malerei nach ihrer wahren Beſtimmung geben kann; das Blut der Ahnen, die umgebende Natur, der Adel der Geſtalten, die unmittelbare Anſchauung der noch erhaltenen Schätze der antiken Kunſt ſichert ihm aber einen unvertilgbar eigenen Schatz jenes objectiven Bildungsgeiſtes, jenes reinen und harmoniſchen Form- ſinns, welcher nicht zuläßt, daß dieſes Innerliche, die Quelle der über die Form hinausgreifenden Tiefe des Ausdrucks, ſich bis zu dem härteren, im ſpezifiſch maleriſchen Styl immer vorausgeſetzten Bruch ſteigere, welcher vielmehr auch das vertiefte Gemüth in warmem und ebenem Fluß in die Geſtalt herausführt, auch das einer neuen Welt der Unendlichkeit ſich bewußte Innere mit dem Aeußern in ein unmittelbar ſchönes Gleichgewicht ſetzt. Dieß bleibt in allen den Miſchungsverhältniſſen der Momente, in welche wir nun dieſe Richtung ſelbſt ſich ſpalten ſehen, die feſte, gemein- ſchaftliche Grundlage.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 704. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/212>, abgerufen am 19.04.2024.