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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Gelehrten der Gegenwart, welche wir ohne eigentlichen Antheil beigezogen
und mit der vollen Gediegenheit historischen Gefühls dargestellt sehen, ist
denn noch ungleich entschiedener, als bei der Schule des Giotto, der Zug
zu der rein geschichtlichen Malerei zu erkennen, der ebenfalls durch die
Herrschaft des mythischen Stoffes zurückgedrängt sich nur als Anhang an
diesen lagern kann.

Auf der andern Seite steht denn die umbrische Schule, die in dem
Wege fortgeht, auf welchem die sienesische stehen geblieben. Sie erst
öffnet den ganzen Himmel trunkener Andacht, die Tiefen der Wehmuth,
des unsagbaren Seelenweinens, des süßen, wundervollen Träumens, das
sich in das Gnaden-Meer des Jenseits versenkt, der Entzückung verzeihen-
der, ewiger Liebe; das weibliche, das Madonnen-Ideal ist ihr wahres
Gebiet, ja sie hat es in seiner wahren Schöne und himmlischen Grazie
erst geschaffen. In diesem Sinne des vorherrschenden Gemüths-Ausdrucks
steht sie noch entschiedener im Mittelpuncte des ächt Malerischen, als die
sienesische Schule, weil sie nun das Element, worin die Tiefe des Inner-
lichen erst seinen vollen Ausdruck finden soll, die Farbe, zu jener Wärme
fortbildet, aus welcher die mystische Gluth des Herzens hervorwallt. Allein
gerade die Unendlichkeit des Innern selbst hätte sie in dieser Fülle nicht
zum Ausdruck gebracht, wenn sie des Plastischen nicht mehr aufgenommen
hätte, als die Sienesen. So lernt denn der große Meister des umbrischen
Styls, Pietro Perugino, in Florenz Zeichnung und Composition;
allein er fühlt, daß er sich nach dieser Seite wieder beschränken muß,
wenn er das Ideal der Innigkeit zur Vollendung bringen will, er steht
daher von den großen Compositionen so weit ab, daß er von nun an
nur Scenen stiller Liebe oder stillen Schmerzes, und auch dieß nur ver-
einzelt, in figurenreicheren Scenen behandelt; die einfacheren Gruppen,
Madonna mit dem Kind und einigen Heiligen im Wechseltausch beseli-
gender Liebe, sind sein wahres Feld; in der Zeichnung bleibt er wirklich
zurück, gewisse Mängel kehren gleichmäßig wieder. Aber diese Zeichnung
hat sich doch in der florentinischen Schulzeit Fluß und Adel genug an-
geeignet, um, verbunden mit der mystischen Tiefe des Ausdrucks, ein Ideal
zu erzeugen, das man nur mit der deutschen Malerei vergleichen darf,
um zu begreifen, daß der Italiener mitten im ächt Romantischen immer
noch plastisch bleibt. Denn hier wirkt die Grazie der Form auf den
Ausdruck so zurück, daß das in sich concentrirte Herz als ein solches er-
scheint, das doch gegen sein eigenes Sinnenleben und die Natur umher
nicht in hartem Bruche zurücktritt, vielmehr als wahrhaft schöne Seele
die Quelle der äußeren Grazie schon in sich, in der innern Grazie trägt.
Das aber leuchtet ein, daß ein solcher Styl nicht ebenso die andern Seiten
des Malerischen, insbesondere die Individualität, ausbilden kann, wie der

Gelehrten der Gegenwart, welche wir ohne eigentlichen Antheil beigezogen
und mit der vollen Gediegenheit hiſtoriſchen Gefühls dargeſtellt ſehen, iſt
denn noch ungleich entſchiedener, als bei der Schule des Giotto, der Zug
zu der rein geſchichtlichen Malerei zu erkennen, der ebenfalls durch die
Herrſchaft des mythiſchen Stoffes zurückgedrängt ſich nur als Anhang an
dieſen lagern kann.

Auf der andern Seite ſteht denn die umbriſche Schule, die in dem
Wege fortgeht, auf welchem die ſieneſiſche ſtehen geblieben. Sie erſt
öffnet den ganzen Himmel trunkener Andacht, die Tiefen der Wehmuth,
des unſagbaren Seelenweinens, des ſüßen, wundervollen Träumens, das
ſich in das Gnaden-Meer des Jenſeits verſenkt, der Entzückung verzeihen-
der, ewiger Liebe; das weibliche, das Madonnen-Ideal iſt ihr wahres
Gebiet, ja ſie hat es in ſeiner wahren Schöne und himmliſchen Grazie
erſt geſchaffen. In dieſem Sinne des vorherrſchenden Gemüths-Ausdrucks
ſteht ſie noch entſchiedener im Mittelpuncte des ächt Maleriſchen, als die
ſieneſiſche Schule, weil ſie nun das Element, worin die Tiefe des Inner-
lichen erſt ſeinen vollen Ausdruck finden ſoll, die Farbe, zu jener Wärme
fortbildet, aus welcher die myſtiſche Gluth des Herzens hervorwallt. Allein
gerade die Unendlichkeit des Innern ſelbſt hätte ſie in dieſer Fülle nicht
zum Ausdruck gebracht, wenn ſie des Plaſtiſchen nicht mehr aufgenommen
hätte, als die Sieneſen. So lernt denn der große Meiſter des umbriſchen
Styls, Pietro Perugino, in Florenz Zeichnung und Compoſition;
allein er fühlt, daß er ſich nach dieſer Seite wieder beſchränken muß,
wenn er das Ideal der Innigkeit zur Vollendung bringen will, er ſteht
daher von den großen Compoſitionen ſo weit ab, daß er von nun an
nur Scenen ſtiller Liebe oder ſtillen Schmerzes, und auch dieß nur ver-
einzelt, in figurenreicheren Scenen behandelt; die einfacheren Gruppen,
Madonna mit dem Kind und einigen Heiligen im Wechſeltauſch beſeli-
gender Liebe, ſind ſein wahres Feld; in der Zeichnung bleibt er wirklich
zurück, gewiſſe Mängel kehren gleichmäßig wieder. Aber dieſe Zeichnung
hat ſich doch in der florentiniſchen Schulzeit Fluß und Adel genug an-
geeignet, um, verbunden mit der myſtiſchen Tiefe des Ausdrucks, ein Ideal
zu erzeugen, das man nur mit der deutſchen Malerei vergleichen darf,
um zu begreifen, daß der Italiener mitten im ächt Romantiſchen immer
noch plaſtiſch bleibt. Denn hier wirkt die Grazie der Form auf den
Ausdruck ſo zurück, daß das in ſich concentrirte Herz als ein ſolches er-
ſcheint, das doch gegen ſein eigenes Sinnenleben und die Natur umher
nicht in hartem Bruche zurücktritt, vielmehr als wahrhaft ſchöne Seele
die Quelle der äußeren Grazie ſchon in ſich, in der innern Grazie trägt.
Das aber leuchtet ein, daß ein ſolcher Styl nicht ebenſo die andern Seiten
des Maleriſchen, insbeſondere die Individualität, ausbilden kann, wie der

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[711/0219] Gelehrten der Gegenwart, welche wir ohne eigentlichen Antheil beigezogen und mit der vollen Gediegenheit hiſtoriſchen Gefühls dargeſtellt ſehen, iſt denn noch ungleich entſchiedener, als bei der Schule des Giotto, der Zug zu der rein geſchichtlichen Malerei zu erkennen, der ebenfalls durch die Herrſchaft des mythiſchen Stoffes zurückgedrängt ſich nur als Anhang an dieſen lagern kann. Auf der andern Seite ſteht denn die umbriſche Schule, die in dem Wege fortgeht, auf welchem die ſieneſiſche ſtehen geblieben. Sie erſt öffnet den ganzen Himmel trunkener Andacht, die Tiefen der Wehmuth, des unſagbaren Seelenweinens, des ſüßen, wundervollen Träumens, das ſich in das Gnaden-Meer des Jenſeits verſenkt, der Entzückung verzeihen- der, ewiger Liebe; das weibliche, das Madonnen-Ideal iſt ihr wahres Gebiet, ja ſie hat es in ſeiner wahren Schöne und himmliſchen Grazie erſt geſchaffen. In dieſem Sinne des vorherrſchenden Gemüths-Ausdrucks ſteht ſie noch entſchiedener im Mittelpuncte des ächt Maleriſchen, als die ſieneſiſche Schule, weil ſie nun das Element, worin die Tiefe des Inner- lichen erſt ſeinen vollen Ausdruck finden ſoll, die Farbe, zu jener Wärme fortbildet, aus welcher die myſtiſche Gluth des Herzens hervorwallt. Allein gerade die Unendlichkeit des Innern ſelbſt hätte ſie in dieſer Fülle nicht zum Ausdruck gebracht, wenn ſie des Plaſtiſchen nicht mehr aufgenommen hätte, als die Sieneſen. So lernt denn der große Meiſter des umbriſchen Styls, Pietro Perugino, in Florenz Zeichnung und Compoſition; allein er fühlt, daß er ſich nach dieſer Seite wieder beſchränken muß, wenn er das Ideal der Innigkeit zur Vollendung bringen will, er ſteht daher von den großen Compoſitionen ſo weit ab, daß er von nun an nur Scenen ſtiller Liebe oder ſtillen Schmerzes, und auch dieß nur ver- einzelt, in figurenreicheren Scenen behandelt; die einfacheren Gruppen, Madonna mit dem Kind und einigen Heiligen im Wechſeltauſch beſeli- gender Liebe, ſind ſein wahres Feld; in der Zeichnung bleibt er wirklich zurück, gewiſſe Mängel kehren gleichmäßig wieder. Aber dieſe Zeichnung hat ſich doch in der florentiniſchen Schulzeit Fluß und Adel genug an- geeignet, um, verbunden mit der myſtiſchen Tiefe des Ausdrucks, ein Ideal zu erzeugen, das man nur mit der deutſchen Malerei vergleichen darf, um zu begreifen, daß der Italiener mitten im ächt Romantiſchen immer noch plaſtiſch bleibt. Denn hier wirkt die Grazie der Form auf den Ausdruck ſo zurück, daß das in ſich concentrirte Herz als ein ſolches er- ſcheint, das doch gegen ſein eigenes Sinnenleben und die Natur umher nicht in hartem Bruche zurücktritt, vielmehr als wahrhaft ſchöne Seele die Quelle der äußeren Grazie ſchon in ſich, in der innern Grazie trägt. Das aber leuchtet ein, daß ein ſolcher Styl nicht ebenſo die andern Seiten des Maleriſchen, insbeſondere die Individualität, ausbilden kann, wie der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 711. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/219>, abgerufen am 29.03.2024.