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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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weniger methodischen, Classicismus in ausschweifenden Prunk und Sinnenkitzel
wird durch David das plastische Stylgesetz des Alterthums zur straffen Richt-
schnur und zum mechanischen Schulzwang erhoben, zugleich aber durch die Stimmung
eines theatralischen Pathos verfälscht.

Wir haben folgende interessante Verschiebung der Ordnungen vor
uns: es ist zunächst die dritte von drei parallelen Gruppen, vor der wir
stehen; jede der beiden ersten Gruppen enthält Action und Reaction: die
erste bilden die italienischen Eklektiker und ihre Gegner, die Naturalisten;
die zweite die Belgier und Holländer, von denen die letzteren selbst gegen
die Reminiscenz von plastischem Formenpathos reagiren, die noch in Rubens
ist, ja sogar gegen die düstere Großheit Rembrandts; die dritte, bei der
wir angelangt, zeigt zwar auch zwei Formen, aber Formen desselben
Prinzips, das erst noch weiter ansteigen und dann seinen Gegner finden
soll. Dieß ist die eine Linie der Betrachtung; nach der andern stehen
dagegen die Belgier und Holländer als Ein Ganzes der gesammten ersten,
italienischen Gruppe gegenüber, bilden das ächt malerische Gegenbild gegen
ihre Anschauung. Jetzt ist die gegenwärtige dritte Gruppe nicht mehr eine
von dreien, sondern sie eröffnet als erster Satz, als Thesis einen neuen
Gang. Und diese Beziehung ist so einschneidend, daß wir nun die beiden
ersten Gruppen in eine Vorstufe des modernen Ideals zu verweisen
haben, das im strengsten Sinn erst jetzt eintritt. Denn in der That
beginnt das ächt Moderne erst da, wo die nordischen Völker der neueren
Zeit, um sich von der Härte jenes Bruchs zwischen Inhalt und Form zu
befreien (§. 467), zum erstenmale bewußt, prinzipiell, straff und in vollem,
ganzem Schritte das antike Formgesetz in sich aufnehmen. Das war bisher
nie geschehen. Abstract, einseitig mußte dieser erste Schritt der volleren
Aneignung sein, wenn er entschieden, radical sein sollte. In solcher
schnurgeraden Weise konnte ihn aber nur dasjenige der nordischen Völker
vollziehen, dessen germanische Elemente sich ganz in das herrschende ro-
manische eingeschmolzen haben, denn romanisch ist eine solche generalisirende
Disciplin. Inzwischen haben wir nicht einen einfachen Schritt vor uns;
in der Geschichte der Phantasie hat §. 476, auf den wir zurückverweisen,
vor Allem die Poesie im Auge, die ihre classische Dictatur zur Zeit Lud-
wigs XIV in Einem Haupt-Tempo in's Werk setzte; in der Malerei sind
es zwei Momente: voran geht eine harmlosere, weniger straffe Form des
Classicismus, die mit Nicol. Poussin beginnt, und erst in der Zeit der
Nevolution folgt die zweite, radicale Form, begründet durch David. Zu
diesem Begriffe des Radicalen gehört die weitere Bestimmung, daß nicht
nur auf die den Alten verwandten Maler Italiens, sondern zur Quelle,
zu den Alten selbst zurückgegangen wurde. Dieß that allerdings schon

weniger methodiſchen, Claſſiciſmus in ausſchweifenden Prunk und Sinnenkitzel
wird durch David das plaſtiſche Stylgeſetz des Alterthums zur ſtraffen Richt-
ſchnur und zum mechaniſchen Schulzwang erhoben, zugleich aber durch die Stimmung
eines theatraliſchen Pathos verfälſcht.

Wir haben folgende intereſſante Verſchiebung der Ordnungen vor
uns: es iſt zunächſt die dritte von drei parallelen Gruppen, vor der wir
ſtehen; jede der beiden erſten Gruppen enthält Action und Reaction: die
erſte bilden die italieniſchen Eklektiker und ihre Gegner, die Naturaliſten;
die zweite die Belgier und Holländer, von denen die letzteren ſelbſt gegen
die Reminiſcenz von plaſtiſchem Formenpathos reagiren, die noch in Rubens
iſt, ja ſogar gegen die düſtere Großheit Rembrandts; die dritte, bei der
wir angelangt, zeigt zwar auch zwei Formen, aber Formen deſſelben
Prinzips, das erſt noch weiter anſteigen und dann ſeinen Gegner finden
ſoll. Dieß iſt die eine Linie der Betrachtung; nach der andern ſtehen
dagegen die Belgier und Holländer als Ein Ganzes der geſammten erſten,
italieniſchen Gruppe gegenüber, bilden das ächt maleriſche Gegenbild gegen
ihre Anſchauung. Jetzt iſt die gegenwärtige dritte Gruppe nicht mehr eine
von dreien, ſondern ſie eröffnet als erſter Satz, als Theſis einen neuen
Gang. Und dieſe Beziehung iſt ſo einſchneidend, daß wir nun die beiden
erſten Gruppen in eine Vorſtufe des modernen Ideals zu verweiſen
haben, das im ſtrengſten Sinn erſt jetzt eintritt. Denn in der That
beginnt das ächt Moderne erſt da, wo die nordiſchen Völker der neueren
Zeit, um ſich von der Härte jenes Bruchs zwiſchen Inhalt und Form zu
befreien (§. 467), zum erſtenmale bewußt, prinzipiell, ſtraff und in vollem,
ganzem Schritte das antike Formgeſetz in ſich aufnehmen. Das war bisher
nie geſchehen. Abſtract, einſeitig mußte dieſer erſte Schritt der volleren
Aneignung ſein, wenn er entſchieden, radical ſein ſollte. In ſolcher
ſchnurgeraden Weiſe konnte ihn aber nur dasjenige der nordiſchen Völker
vollziehen, deſſen germaniſche Elemente ſich ganz in das herrſchende ro-
maniſche eingeſchmolzen haben, denn romaniſch iſt eine ſolche generaliſirende
Diſciplin. Inzwiſchen haben wir nicht einen einfachen Schritt vor uns;
in der Geſchichte der Phantaſie hat §. 476, auf den wir zurückverweiſen,
vor Allem die Poeſie im Auge, die ihre claſſiſche Dictatur zur Zeit Lud-
wigs XIV in Einem Haupt-Tempo in’s Werk ſetzte; in der Malerei ſind
es zwei Momente: voran geht eine harmloſere, weniger ſtraffe Form des
Claſſicismus, die mit Nicol. Pouſſin beginnt, und erſt in der Zeit der
Nevolution folgt die zweite, radicale Form, begründet durch David. Zu
dieſem Begriffe des Radicalen gehört die weitere Beſtimmung, daß nicht
nur auf die den Alten verwandten Maler Italiens, ſondern zur Quelle,
zu den Alten ſelbſt zurückgegangen wurde. Dieß that allerdings ſchon

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[748/0256] weniger methodiſchen, Claſſiciſmus in ausſchweifenden Prunk und Sinnenkitzel wird durch David das plaſtiſche Stylgeſetz des Alterthums zur ſtraffen Richt- ſchnur und zum mechaniſchen Schulzwang erhoben, zugleich aber durch die Stimmung eines theatraliſchen Pathos verfälſcht. Wir haben folgende intereſſante Verſchiebung der Ordnungen vor uns: es iſt zunächſt die dritte von drei parallelen Gruppen, vor der wir ſtehen; jede der beiden erſten Gruppen enthält Action und Reaction: die erſte bilden die italieniſchen Eklektiker und ihre Gegner, die Naturaliſten; die zweite die Belgier und Holländer, von denen die letzteren ſelbſt gegen die Reminiſcenz von plaſtiſchem Formenpathos reagiren, die noch in Rubens iſt, ja ſogar gegen die düſtere Großheit Rembrandts; die dritte, bei der wir angelangt, zeigt zwar auch zwei Formen, aber Formen deſſelben Prinzips, das erſt noch weiter anſteigen und dann ſeinen Gegner finden ſoll. Dieß iſt die eine Linie der Betrachtung; nach der andern ſtehen dagegen die Belgier und Holländer als Ein Ganzes der geſammten erſten, italieniſchen Gruppe gegenüber, bilden das ächt maleriſche Gegenbild gegen ihre Anſchauung. Jetzt iſt die gegenwärtige dritte Gruppe nicht mehr eine von dreien, ſondern ſie eröffnet als erſter Satz, als Theſis einen neuen Gang. Und dieſe Beziehung iſt ſo einſchneidend, daß wir nun die beiden erſten Gruppen in eine Vorſtufe des modernen Ideals zu verweiſen haben, das im ſtrengſten Sinn erſt jetzt eintritt. Denn in der That beginnt das ächt Moderne erſt da, wo die nordiſchen Völker der neueren Zeit, um ſich von der Härte jenes Bruchs zwiſchen Inhalt und Form zu befreien (§. 467), zum erſtenmale bewußt, prinzipiell, ſtraff und in vollem, ganzem Schritte das antike Formgeſetz in ſich aufnehmen. Das war bisher nie geſchehen. Abſtract, einſeitig mußte dieſer erſte Schritt der volleren Aneignung ſein, wenn er entſchieden, radical ſein ſollte. In ſolcher ſchnurgeraden Weiſe konnte ihn aber nur dasjenige der nordiſchen Völker vollziehen, deſſen germaniſche Elemente ſich ganz in das herrſchende ro- maniſche eingeſchmolzen haben, denn romaniſch iſt eine ſolche generaliſirende Diſciplin. Inzwiſchen haben wir nicht einen einfachen Schritt vor uns; in der Geſchichte der Phantaſie hat §. 476, auf den wir zurückverweiſen, vor Allem die Poeſie im Auge, die ihre claſſiſche Dictatur zur Zeit Lud- wigs XIV in Einem Haupt-Tempo in’s Werk ſetzte; in der Malerei ſind es zwei Momente: voran geht eine harmloſere, weniger ſtraffe Form des Claſſicismus, die mit Nicol. Pouſſin beginnt, und erſt in der Zeit der Nevolution folgt die zweite, radicale Form, begründet durch David. Zu dieſem Begriffe des Radicalen gehört die weitere Beſtimmung, daß nicht nur auf die den Alten verwandten Maler Italiens, ſondern zur Quelle, zu den Alten ſelbſt zurückgegangen wurde. Dieß that allerdings ſchon

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 748. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/256>, abgerufen am 24.04.2024.