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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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§. 745.

Lebendigen Naturstoff bearbeitet die schöne Gartenkunst. Sie erhöht
ästhetisch ein Angenehmes, indem sie den Spaziergang idealisirt. Im Ganzen
malerisch hat sie zugleich ihre architektonische Seite. Der Gegensatz der Style
hat auch in ihr seinen Ausdruck gefunden.

Das letzte Moment, das sich als Grundlage einer anhängenden Form
geltend macht, führt uns hinaus in die wirkliche Natur. Der tiefe Mangel,
der in aller Verwendung unmittelbar lebendigen Naturstoffs zur Kunstform
liegt (vergl. §. 490), muß sich besonders da geltend machen, wo dieser
Stoff nicht die Lenksamkeit der freien Bewegung hat, sondern in Massen-
haftem und Unbeweglichem wie Erde, Wasser, Pflanze besteht. Das
Prinzip einer ästhetischen Verarbeitung dieser Stoffe kann nur ein ma-
lerisches sein; der schöne Garten, d. h. der Garten, der nicht mehr dem
landwirthschaftlichen Nutzen, sondern dem freien Ueberschusse des Nütz-
lichen, dem Angenehmen dient und zu diesem Zwecke das Schöne herbei-
zieht, ist eine mit wirklicher Erde u. s. w. vorgetragene Landschaft. Da-
mit verknüpft sich Architektonisches in der nöthigen Gestaltung des Bodens
und der strengeren Vermessung einzelner Theile, im engeren Sinne ma-
lerisch ist die Berechnung des Eindrucks, den Fassung und Bewegung des
Wassers machen soll, und die Gruppirung der Bäume und anderer Pflanzen
nach Form und Farbe. Die doppelte Verbindung mit Außerästhetischem --
in Material und Zweck -- hebt Werth und Reiz dieser anhängenden Form
nicht auf, wenn nur der Gartenkünstler seiner gemischten Aufgabe sich
bewußt ist und daher nicht mit der eigentlichen Malerei wettzueifern sucht.
Es handelt sich ja in Wahrheit nicht um eine einheitliche Landschaft,
sondern der Genießende bewegt sich fort und dabei sind ihm schöne Ueber-
blicke zu eröffnen, Ruhepuncte und Aussichten herzustellen, die nur in sehr
annäherndem Sinn ein Ganzes darstellen können, vielmehr an einzelne
landschaftliche Studien erinnern. Das Absichtliche darf hier durchaus nicht
verhehlt werden, sondern soll sich in jener bestimmteren Vermessung einzelner
Theile unbefangen aussprechen. Der Spaziergänger entbehrt die freie
Schönheit der zufällig gefundenen ästhetisch erfreuenden Landschaft im
Großen und genießt dafür den Vortheil einer von Menschenhand gepflegten,
gereinigten Natur, wo ihn nicht rohe Zufälligkeit, Schmutz, Verkrüpplung,
Raupenfraß, wüster Lärm, Anblick von Thierquälerei, überhaupt die Qual
des Lebens in der reinen Stimmung stört, die ihm aus dem bescheidenen
Nachbilde dessen zufließt, was der künstlerische Blick in einer großen und
freien Erscheinung des landschaftlich Schönen zusammenfaßt. -- Es ist
interessant, wie der Gegensatz der Stylrichtungen, der uns überall begleitet,

§. 745.

Lebendigen Naturſtoff bearbeitet die ſchöne Gartenkunſt. Sie erhöht
äſthetiſch ein Angenehmes, indem ſie den Spaziergang idealiſirt. Im Ganzen
maleriſch hat ſie zugleich ihre architektoniſche Seite. Der Gegenſatz der Style
hat auch in ihr ſeinen Ausdruck gefunden.

Das letzte Moment, das ſich als Grundlage einer anhängenden Form
geltend macht, führt uns hinaus in die wirkliche Natur. Der tiefe Mangel,
der in aller Verwendung unmittelbar lebendigen Naturſtoffs zur Kunſtform
liegt (vergl. §. 490), muß ſich beſonders da geltend machen, wo dieſer
Stoff nicht die Lenkſamkeit der freien Bewegung hat, ſondern in Maſſen-
haftem und Unbeweglichem wie Erde, Waſſer, Pflanze beſteht. Das
Prinzip einer äſthetiſchen Verarbeitung dieſer Stoffe kann nur ein ma-
leriſches ſein; der ſchöne Garten, d. h. der Garten, der nicht mehr dem
landwirthſchaftlichen Nutzen, ſondern dem freien Ueberſchuſſe des Nütz-
lichen, dem Angenehmen dient und zu dieſem Zwecke das Schöne herbei-
zieht, iſt eine mit wirklicher Erde u. ſ. w. vorgetragene Landſchaft. Da-
mit verknüpft ſich Architektoniſches in der nöthigen Geſtaltung des Bodens
und der ſtrengeren Vermeſſung einzelner Theile, im engeren Sinne ma-
leriſch iſt die Berechnung des Eindrucks, den Faſſung und Bewegung des
Waſſers machen ſoll, und die Gruppirung der Bäume und anderer Pflanzen
nach Form und Farbe. Die doppelte Verbindung mit Außeräſthetiſchem —
in Material und Zweck — hebt Werth und Reiz dieſer anhängenden Form
nicht auf, wenn nur der Gartenkünſtler ſeiner gemiſchten Aufgabe ſich
bewußt iſt und daher nicht mit der eigentlichen Malerei wettzueifern ſucht.
Es handelt ſich ja in Wahrheit nicht um eine einheitliche Landſchaft,
ſondern der Genießende bewegt ſich fort und dabei ſind ihm ſchöne Ueber-
blicke zu eröffnen, Ruhepuncte und Ausſichten herzuſtellen, die nur in ſehr
annäherndem Sinn ein Ganzes darſtellen können, vielmehr an einzelne
landſchaftliche Studien erinnern. Das Abſichtliche darf hier durchaus nicht
verhehlt werden, ſondern ſoll ſich in jener beſtimmteren Vermeſſung einzelner
Theile unbefangen ausſprechen. Der Spaziergänger entbehrt die freie
Schönheit der zufällig gefundenen äſthetiſch erfreuenden Landſchaft im
Großen und genießt dafür den Vortheil einer von Menſchenhand gepflegten,
gereinigten Natur, wo ihn nicht rohe Zufälligkeit, Schmutz, Verkrüpplung,
Raupenfraß, wüſter Lärm, Anblick von Thierquälerei, überhaupt die Qual
des Lebens in der reinen Stimmung ſtört, die ihm aus dem beſcheidenen
Nachbilde deſſen zufließt, was der künſtleriſche Blick in einer großen und
freien Erſcheinung des landſchaftlich Schönen zuſammenfaßt. — Es iſt
intereſſant, wie der Gegenſatz der Stylrichtungen, der uns überall begleitet,

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[772/0280] §. 745. Lebendigen Naturſtoff bearbeitet die ſchöne Gartenkunſt. Sie erhöht äſthetiſch ein Angenehmes, indem ſie den Spaziergang idealiſirt. Im Ganzen maleriſch hat ſie zugleich ihre architektoniſche Seite. Der Gegenſatz der Style hat auch in ihr ſeinen Ausdruck gefunden. Das letzte Moment, das ſich als Grundlage einer anhängenden Form geltend macht, führt uns hinaus in die wirkliche Natur. Der tiefe Mangel, der in aller Verwendung unmittelbar lebendigen Naturſtoffs zur Kunſtform liegt (vergl. §. 490), muß ſich beſonders da geltend machen, wo dieſer Stoff nicht die Lenkſamkeit der freien Bewegung hat, ſondern in Maſſen- haftem und Unbeweglichem wie Erde, Waſſer, Pflanze beſteht. Das Prinzip einer äſthetiſchen Verarbeitung dieſer Stoffe kann nur ein ma- leriſches ſein; der ſchöne Garten, d. h. der Garten, der nicht mehr dem landwirthſchaftlichen Nutzen, ſondern dem freien Ueberſchuſſe des Nütz- lichen, dem Angenehmen dient und zu dieſem Zwecke das Schöne herbei- zieht, iſt eine mit wirklicher Erde u. ſ. w. vorgetragene Landſchaft. Da- mit verknüpft ſich Architektoniſches in der nöthigen Geſtaltung des Bodens und der ſtrengeren Vermeſſung einzelner Theile, im engeren Sinne ma- leriſch iſt die Berechnung des Eindrucks, den Faſſung und Bewegung des Waſſers machen ſoll, und die Gruppirung der Bäume und anderer Pflanzen nach Form und Farbe. Die doppelte Verbindung mit Außeräſthetiſchem — in Material und Zweck — hebt Werth und Reiz dieſer anhängenden Form nicht auf, wenn nur der Gartenkünſtler ſeiner gemiſchten Aufgabe ſich bewußt iſt und daher nicht mit der eigentlichen Malerei wettzueifern ſucht. Es handelt ſich ja in Wahrheit nicht um eine einheitliche Landſchaft, ſondern der Genießende bewegt ſich fort und dabei ſind ihm ſchöne Ueber- blicke zu eröffnen, Ruhepuncte und Ausſichten herzuſtellen, die nur in ſehr annäherndem Sinn ein Ganzes darſtellen können, vielmehr an einzelne landſchaftliche Studien erinnern. Das Abſichtliche darf hier durchaus nicht verhehlt werden, ſondern ſoll ſich in jener beſtimmteren Vermeſſung einzelner Theile unbefangen ausſprechen. Der Spaziergänger entbehrt die freie Schönheit der zufällig gefundenen äſthetiſch erfreuenden Landſchaft im Großen und genießt dafür den Vortheil einer von Menſchenhand gepflegten, gereinigten Natur, wo ihn nicht rohe Zufälligkeit, Schmutz, Verkrüpplung, Raupenfraß, wüſter Lärm, Anblick von Thierquälerei, überhaupt die Qual des Lebens in der reinen Stimmung ſtört, die ihm aus dem beſcheidenen Nachbilde deſſen zufließt, was der künſtleriſche Blick in einer großen und freien Erſcheinung des landſchaftlich Schönen zuſammenfaßt. — Es iſt intereſſant, wie der Gegenſatz der Stylrichtungen, der uns überall begleitet,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 772. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/280>, abgerufen am 29.03.2024.