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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Die möglichen Formen des musikalischen Kunstwerks sind, abgesehen
vom "umfassendern Tonwerk", das uns in seiner speziellern Bestimmtheit
erst mit der Gliederung der Musik in ihre großen zwei Hauptzweige entsteht,
erschöpft, da andere nicht mehr denkbar sind; wir wenden uns daher zur
Lehre vom Styl, die zugleich den Uebergang zu der von den Zweigen bildet.

§. 792.

Der Reichthum an ausdrucksvollen und charakteristischen, an streng gesetz-
mäßigen, wie an leichten, gefälligen und wirkungsreichen Formen, welcher der
Musik zu Gebote steht, und die scheinbar unumschränkte Freiheit, mit welcher
in ihr der Künstler durch keine typischen Naturvorbilder gebunden, sein Mate-
rial in mannigfaltigster Weise handzuhaben vermag, führt die musikalische Com-
position besonders leicht zu Einseitigkeiten und Willkührlichkeiten, die das
natürliche Gefühl als solche erkennt und denen auch die wissenschaftliche Betrach-
tung entgegenzutreten hat durch Aufstellung der Gesetze des musikali-
schen Styls
. Der eine Fehler, welcher nahe liegt, ist gesuchtes falsches Stre-
ben nach Ausdruck, nach Bestimmtheit, nach naturalistischer Objectivität und
überconcreter Individualisirung (einseitig indirecter Idealismus), verbunden mit
Mißachtung der Gesetze der Klarheit, Gefälligkeit und Rundung, der Eben-
mäßigkeit und Idealität, kurz Ueberwiegen des Moments des Inhalts über
das der Form. Der andere dagegen ist einseitiger Formalismus, Formencultus
(directer Idealismus), Formeffect, sowie abstracte, farb- und inhaltlose Ton-
bewegung. Diesen Einseitigkeiten gegenüber verlangt das Wesen der Musik,
hierin zur Poesie sich ähnlich verhaltend wie Architectur und Plastik zur Ma-
lerei, ein Gleichgewicht der beiden Elemente, von welchem möglichst wenig und
eher zu Gunsten des formalen als des objectiv materialen Elements abzu-
weichen ist.

An die Betrachtung der musikalischen Kunstformen reihen wir die Lehre
vom Styl an, die sowohl ihrer (im gegenwärtigen §. besprochenen) nega-
tiven als ihrer positiven Seite nach diesen ganzen Kreis der verschiedenen
Gestaltungen des Tonmaterials voraussetzt. Die im §. aufgestellten Sätze
sind jetzt ziemlich allgemein anerkannt; es bedurfte aber Zeit genug, bis sie
durchzudringen vermochten, und es fehlt auch gegenwärtig nicht an Rich-
tungen von ganz entgegengesetzter Art. Das ganze Material der Musik
ist wesentlich ein schwebendes, welchem die körperliche Massenhaftigkeit, die
geometrische Formbestimmtheit, die sinnliche Objectivität, die verständige,
erpressive Deutlichkeit des Materials der andern Künste schlechthin abgeht.
Diesen Charakter des Schwebenden, das nicht bauen, bilden, zeichnen,
malen, schildern kann, sondern von allem Diesem nur eine Analogie zuläßt,

Die möglichen Formen des muſikaliſchen Kunſtwerks ſind, abgeſehen
vom „umfaſſendern Tonwerk“, das uns in ſeiner ſpeziellern Beſtimmtheit
erſt mit der Gliederung der Muſik in ihre großen zwei Hauptzweige entſteht,
erſchöpft, da andere nicht mehr denkbar ſind; wir wenden uns daher zur
Lehre vom Styl, die zugleich den Uebergang zu der von den Zweigen bildet.

§. 792.

Der Reichthum an ausdrucksvollen und charakteriſtiſchen, an ſtreng geſetz-
mäßigen, wie an leichten, gefälligen und wirkungsreichen Formen, welcher der
Muſik zu Gebote ſteht, und die ſcheinbar unumſchränkte Freiheit, mit welcher
in ihr der Künſtler durch keine typiſchen Naturvorbilder gebunden, ſein Mate-
rial in mannigfaltigſter Weiſe handzuhaben vermag, führt die muſikaliſche Com-
poſition beſonders leicht zu Einſeitigkeiten und Willkührlichkeiten, die das
natürliche Gefühl als ſolche erkennt und denen auch die wiſſenſchaftliche Betrach-
tung entgegenzutreten hat durch Aufſtellung der Geſetze des muſikali-
ſchen Styls
. Der eine Fehler, welcher nahe liegt, iſt geſuchtes falſches Stre-
ben nach Ausdruck, nach Beſtimmtheit, nach naturaliſtiſcher Objectivität und
überconcreter Individualiſirung (einſeitig indirecter Idealiſmus), verbunden mit
Mißachtung der Geſetze der Klarheit, Gefälligkeit und Rundung, der Eben-
mäßigkeit und Idealität, kurz Ueberwiegen des Moments des Inhalts über
das der Form. Der andere dagegen iſt einſeitiger Formalismus, Formencultus
(directer Idealiſmus), Formeffect, ſowie abſtracte, farb- und inhaltloſe Ton-
bewegung. Dieſen Einſeitigkeiten gegenüber verlangt das Weſen der Muſik,
hierin zur Poeſie ſich ähnlich verhaltend wie Architectur und Plaſtik zur Ma-
lerei, ein Gleichgewicht der beiden Elemente, von welchem möglichſt wenig und
eher zu Gunſten des formalen als des objectiv materialen Elements abzu-
weichen iſt.

An die Betrachtung der muſikaliſchen Kunſtformen reihen wir die Lehre
vom Styl an, die ſowohl ihrer (im gegenwärtigen §. beſprochenen) nega-
tiven als ihrer poſitiven Seite nach dieſen ganzen Kreis der verſchiedenen
Geſtaltungen des Tonmaterials vorausſetzt. Die im §. aufgeſtellten Sätze
ſind jetzt ziemlich allgemein anerkannt; es bedurfte aber Zeit genug, bis ſie
durchzudringen vermochten, und es fehlt auch gegenwärtig nicht an Rich-
tungen von ganz entgegengeſetzter Art. Das ganze Material der Muſik
iſt weſentlich ein ſchwebendes, welchem die körperliche Maſſenhaftigkeit, die
geometriſche Formbeſtimmtheit, die ſinnliche Objectivität, die verſtändige,
erpreſſive Deutlichkeit des Materials der andern Künſte ſchlechthin abgeht.
Dieſen Charakter des Schwebenden, das nicht bauen, bilden, zeichnen,
malen, ſchildern kann, ſondern von allem Dieſem nur eine Analogie zuläßt,

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[965/0203] Die möglichen Formen des muſikaliſchen Kunſtwerks ſind, abgeſehen vom „umfaſſendern Tonwerk“, das uns in ſeiner ſpeziellern Beſtimmtheit erſt mit der Gliederung der Muſik in ihre großen zwei Hauptzweige entſteht, erſchöpft, da andere nicht mehr denkbar ſind; wir wenden uns daher zur Lehre vom Styl, die zugleich den Uebergang zu der von den Zweigen bildet. §. 792. Der Reichthum an ausdrucksvollen und charakteriſtiſchen, an ſtreng geſetz- mäßigen, wie an leichten, gefälligen und wirkungsreichen Formen, welcher der Muſik zu Gebote ſteht, und die ſcheinbar unumſchränkte Freiheit, mit welcher in ihr der Künſtler durch keine typiſchen Naturvorbilder gebunden, ſein Mate- rial in mannigfaltigſter Weiſe handzuhaben vermag, führt die muſikaliſche Com- poſition beſonders leicht zu Einſeitigkeiten und Willkührlichkeiten, die das natürliche Gefühl als ſolche erkennt und denen auch die wiſſenſchaftliche Betrach- tung entgegenzutreten hat durch Aufſtellung der Geſetze des muſikali- ſchen Styls. Der eine Fehler, welcher nahe liegt, iſt geſuchtes falſches Stre- ben nach Ausdruck, nach Beſtimmtheit, nach naturaliſtiſcher Objectivität und überconcreter Individualiſirung (einſeitig indirecter Idealiſmus), verbunden mit Mißachtung der Geſetze der Klarheit, Gefälligkeit und Rundung, der Eben- mäßigkeit und Idealität, kurz Ueberwiegen des Moments des Inhalts über das der Form. Der andere dagegen iſt einſeitiger Formalismus, Formencultus (directer Idealiſmus), Formeffect, ſowie abſtracte, farb- und inhaltloſe Ton- bewegung. Dieſen Einſeitigkeiten gegenüber verlangt das Weſen der Muſik, hierin zur Poeſie ſich ähnlich verhaltend wie Architectur und Plaſtik zur Ma- lerei, ein Gleichgewicht der beiden Elemente, von welchem möglichſt wenig und eher zu Gunſten des formalen als des objectiv materialen Elements abzu- weichen iſt. An die Betrachtung der muſikaliſchen Kunſtformen reihen wir die Lehre vom Styl an, die ſowohl ihrer (im gegenwärtigen §. beſprochenen) nega- tiven als ihrer poſitiven Seite nach dieſen ganzen Kreis der verſchiedenen Geſtaltungen des Tonmaterials vorausſetzt. Die im §. aufgeſtellten Sätze ſind jetzt ziemlich allgemein anerkannt; es bedurfte aber Zeit genug, bis ſie durchzudringen vermochten, und es fehlt auch gegenwärtig nicht an Rich- tungen von ganz entgegengeſetzter Art. Das ganze Material der Muſik iſt weſentlich ein ſchwebendes, welchem die körperliche Maſſenhaftigkeit, die geometriſche Formbeſtimmtheit, die ſinnliche Objectivität, die verſtändige, erpreſſive Deutlichkeit des Materials der andern Künſte ſchlechthin abgeht. Dieſen Charakter des Schwebenden, das nicht bauen, bilden, zeichnen, malen, ſchildern kann, ſondern von allem Dieſem nur eine Analogie zuläßt,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 965. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/203>, abgerufen am 24.04.2024.