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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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ganz zu dem Seinigen, verarbeitet es, setzt es ganz um in das rein sub-
jective Leben. Wenn nichts mehr neben und außer mir ist, bin ich auch
von Nichts in der Welt unfrei abhängig; ich bin durchaus durch das Auf-
genommene bestimmt, aber eben weil ich es durchaus bin, so ist keine neben
diesem Bestimmtsein im Hintergrunde zurückgehaltene Freiheit verkürzt und
unterdrückt, ich bin ganz bei mir und damit ganz frei, ganz Zustand und
ganz reine Selbstbewegung, das ganze, freie Ich hat sich selbst ganz in der
Form der Nothwendigkeit, der Natur, ähnlich wie das Genie die höchste
Freiheit und doch in Form der Naturnothwendigkeit schaffender Instinct ist.
Wir sagen, man solle nicht dem Gefühle folgen, es sei ein trügerischer
Führer, da setzen wir die entwickelte Geisteswelt voraus, wo neben dem
Gefühle der denkende Wille in sein Recht getreten ist; wir sagen ein ander-
mal, das Gefühl leite sicherer, als der Verstand der Verständigen, da haben
wir das Gefühl als die implicirte Einheit aller Geisteskräfte, die ihren
Compaß in sich trägt, im Auge, und dieser Sinn ist es, in welchem es hier,
wo es allein für sich eine ganze Kunstform begründen soll, betrachtet wird.
Freilich auch auf diesem Standpuncte reden wir von unreinem und reinem
Gefühl und verlangen, daß es in sich selbst den Kampf jenes Gegensatzes
von Lust und Unlust zur Harmonie läutere; allein auch in seiner Isolirung
unterliegt das Gefühl dem Gesetze der Zurechnung; eben weil das ganze
und volle Geistesleben flüssig in ihm wogt, gibt es eine Schuld und eine
Tugend des Gefühls. Diese Seite wird allerdings in ihr volles Licht erst
treten, wenn wir in das Concrete gehen und das Gefühl als Product eines
vorangegangenen persönlichen Lebens betrachten, allein es ist ebenso wahr,
daß allen bestimmten Gegensätzen im Leben des Menschen das Gefühl als
ein Grundgefühl seines ganzen Naturells vorangeht, Gut und Bös in ihm
vorbereitet ist, und dieß genügt vorerst, um den Begriff der Imputabilität
auf es anzuwenden. Derselbe kann jedoch allerdings nicht in der Schärfe
gelten, wie in der Anwendung auf den Geist, der aus der dunkeln Einheit
des Gefühls herausgetreten ist; die Beziehung bleibt dunkel, das Gefühl
liegt im Zwielicht zwischen Schuld und Unschuld.

Es war nöthig, von dieser Untersuchung über das Wesen des Gefühls
und seiner Stelle unter den Hauptformen des Geistes auszugehen; es wird
sich zeigen, daß dieß nicht umsonst geschehen ist. Die gegebene Erörterung
schließt sich zum Theil an die Auffassung von K. Th. Planck (die Weltalter
I. Theil).

§. 749.

Es ergibt sich, daß das Gefühl die lebendige Mutter des gesammten
Geisteslebens ist. Es schwebt zwischen dem Sinnlichen und Unsinnlichen, die
bestimmten Thätigkeiten des Geistes treten aus seinem Schooß hervor, werden

ganz zu dem Seinigen, verarbeitet es, ſetzt es ganz um in das rein ſub-
jective Leben. Wenn nichts mehr neben und außer mir iſt, bin ich auch
von Nichts in der Welt unfrei abhängig; ich bin durchaus durch das Auf-
genommene beſtimmt, aber eben weil ich es durchaus bin, ſo iſt keine neben
dieſem Beſtimmtſein im Hintergrunde zurückgehaltene Freiheit verkürzt und
unterdrückt, ich bin ganz bei mir und damit ganz frei, ganz Zuſtand und
ganz reine Selbſtbewegung, das ganze, freie Ich hat ſich ſelbſt ganz in der
Form der Nothwendigkeit, der Natur, ähnlich wie das Genie die höchſte
Freiheit und doch in Form der Naturnothwendigkeit ſchaffender Inſtinct iſt.
Wir ſagen, man ſolle nicht dem Gefühle folgen, es ſei ein trügeriſcher
Führer, da ſetzen wir die entwickelte Geiſteswelt voraus, wo neben dem
Gefühle der denkende Wille in ſein Recht getreten iſt; wir ſagen ein ander-
mal, das Gefühl leite ſicherer, als der Verſtand der Verſtändigen, da haben
wir das Gefühl als die implicirte Einheit aller Geiſteskräfte, die ihren
Compaß in ſich trägt, im Auge, und dieſer Sinn iſt es, in welchem es hier,
wo es allein für ſich eine ganze Kunſtform begründen ſoll, betrachtet wird.
Freilich auch auf dieſem Standpuncte reden wir von unreinem und reinem
Gefühl und verlangen, daß es in ſich ſelbſt den Kampf jenes Gegenſatzes
von Luſt und Unluſt zur Harmonie läutere; allein auch in ſeiner Iſolirung
unterliegt das Gefühl dem Geſetze der Zurechnung; eben weil das ganze
und volle Geiſtesleben flüſſig in ihm wogt, gibt es eine Schuld und eine
Tugend des Gefühls. Dieſe Seite wird allerdings in ihr volles Licht erſt
treten, wenn wir in das Concrete gehen und das Gefühl als Product eines
vorangegangenen perſönlichen Lebens betrachten, allein es iſt ebenſo wahr,
daß allen beſtimmten Gegenſätzen im Leben des Menſchen das Gefühl als
ein Grundgefühl ſeines ganzen Naturells vorangeht, Gut und Bös in ihm
vorbereitet iſt, und dieß genügt vorerſt, um den Begriff der Imputabilität
auf es anzuwenden. Derſelbe kann jedoch allerdings nicht in der Schärfe
gelten, wie in der Anwendung auf den Geiſt, der aus der dunkeln Einheit
des Gefühls herausgetreten iſt; die Beziehung bleibt dunkel, das Gefühl
liegt im Zwielicht zwiſchen Schuld und Unſchuld.

Es war nöthig, von dieſer Unterſuchung über das Weſen des Gefühls
und ſeiner Stelle unter den Hauptformen des Geiſtes auszugehen; es wird
ſich zeigen, daß dieß nicht umſonſt geſchehen iſt. Die gegebene Erörterung
ſchließt ſich zum Theil an die Auffaſſung von K. Th. Planck (die Weltalter
I. Theil).

§. 749.

Es ergibt ſich, daß das Gefühl die lebendige Mutter des geſammten
Geiſteslebens iſt. Es ſchwebt zwiſchen dem Sinnlichen und Unſinnlichen, die
beſtimmten Thätigkeiten des Geiſtes treten aus ſeinem Schooß hervor, werden

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[786/0024] ganz zu dem Seinigen, verarbeitet es, ſetzt es ganz um in das rein ſub- jective Leben. Wenn nichts mehr neben und außer mir iſt, bin ich auch von Nichts in der Welt unfrei abhängig; ich bin durchaus durch das Auf- genommene beſtimmt, aber eben weil ich es durchaus bin, ſo iſt keine neben dieſem Beſtimmtſein im Hintergrunde zurückgehaltene Freiheit verkürzt und unterdrückt, ich bin ganz bei mir und damit ganz frei, ganz Zuſtand und ganz reine Selbſtbewegung, das ganze, freie Ich hat ſich ſelbſt ganz in der Form der Nothwendigkeit, der Natur, ähnlich wie das Genie die höchſte Freiheit und doch in Form der Naturnothwendigkeit ſchaffender Inſtinct iſt. Wir ſagen, man ſolle nicht dem Gefühle folgen, es ſei ein trügeriſcher Führer, da ſetzen wir die entwickelte Geiſteswelt voraus, wo neben dem Gefühle der denkende Wille in ſein Recht getreten iſt; wir ſagen ein ander- mal, das Gefühl leite ſicherer, als der Verſtand der Verſtändigen, da haben wir das Gefühl als die implicirte Einheit aller Geiſteskräfte, die ihren Compaß in ſich trägt, im Auge, und dieſer Sinn iſt es, in welchem es hier, wo es allein für ſich eine ganze Kunſtform begründen ſoll, betrachtet wird. Freilich auch auf dieſem Standpuncte reden wir von unreinem und reinem Gefühl und verlangen, daß es in ſich ſelbſt den Kampf jenes Gegenſatzes von Luſt und Unluſt zur Harmonie läutere; allein auch in ſeiner Iſolirung unterliegt das Gefühl dem Geſetze der Zurechnung; eben weil das ganze und volle Geiſtesleben flüſſig in ihm wogt, gibt es eine Schuld und eine Tugend des Gefühls. Dieſe Seite wird allerdings in ihr volles Licht erſt treten, wenn wir in das Concrete gehen und das Gefühl als Product eines vorangegangenen perſönlichen Lebens betrachten, allein es iſt ebenſo wahr, daß allen beſtimmten Gegenſätzen im Leben des Menſchen das Gefühl als ein Grundgefühl ſeines ganzen Naturells vorangeht, Gut und Bös in ihm vorbereitet iſt, und dieß genügt vorerſt, um den Begriff der Imputabilität auf es anzuwenden. Derſelbe kann jedoch allerdings nicht in der Schärfe gelten, wie in der Anwendung auf den Geiſt, der aus der dunkeln Einheit des Gefühls herausgetreten iſt; die Beziehung bleibt dunkel, das Gefühl liegt im Zwielicht zwiſchen Schuld und Unſchuld. Es war nöthig, von dieſer Unterſuchung über das Weſen des Gefühls und ſeiner Stelle unter den Hauptformen des Geiſtes auszugehen; es wird ſich zeigen, daß dieß nicht umſonſt geſchehen iſt. Die gegebene Erörterung ſchließt ſich zum Theil an die Auffaſſung von K. Th. Planck (die Weltalter I. Theil). §. 749. Es ergibt ſich, daß das Gefühl die lebendige Mutter des geſammten Geiſteslebens iſt. Es ſchwebt zwiſchen dem Sinnlichen und Unſinnlichen, die beſtimmten Thätigkeiten des Geiſtes treten aus ſeinem Schooß hervor, werden

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 786. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/24>, abgerufen am 28.03.2024.