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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Kraft und Vollstimmigkeit, welcher der Männerchor fähig ist, zur vollstän-
digen Anwendung gelangt. Mit dem Männerchor wird so die Kunstmusik
unmittelbar praktisch, sie tritt in's Leben hinein oder zurück mit einigender,
erhebender, massenverschmelzender, allbegeisternder Kraft; der Männerchor
bildet die Brücke, über welche die Kunstmusik überhaupt, auch mit ihren
strengern Formen, allmälig in's Leben der Gesammtheit hinüber sich ver-
pflanzen kann, er macht auch die Kunstmusik zur Volksmusik, er zieht sie
aus der engen Sphäre musikalischer Gelehrsamkeit heraus und führt sie auf
den Schauplatz der Oeffentlichkeit, um auch dem nationalen Gesammtleben
die erwärmende und einigende Kraft der Tonkunst einzuhauchen und Das-
jenige, was dort bereits als Gefühl in den Einzelnen lebt, durch die Macht
des Gesangs zu einem alles verschmelzenden und in immer weitern Kreisen
zündenden Gesammtheitsausdruck zu bringen. Weiter findet sich dieß Alles
ausgeführt in der Schrift "der volksthümliche deutsche Männergesang" von
Dr. O. Elben, in welcher zugleich die historischen Nachweisungen über die
allmälige Herausbildung dieser Musikform gegeben sind. Unter den "Män-
nergesang" fällt natürlich auch das von Männerstimmen vorgetragene Chor-
lied (§. 801), und auch von ihm gilt bis zu einem gewissen Grade, was
im gegenwärtigen §. über den Männerchor gesagt wurde; aber die drei
Puncte, daß durch ihn der Kunstgesang national, der Volksgesang kunst-
mäßig und (durch die Stimmführung) ein sich freier individualisirender
wird, gehören dem Männerchor eigenthümlich an und machen ihn zu einer
ganz besonders wichtigen, in seiner Art einzig dastehenden Form der Ge-
sammtmusik.

§. 804.

1.

Die Combination der verschiedenen homophonen und polyphonen Formen
macht es der Musik möglich, zusammenhängende größere Gesangwerke
zu schaffen, und zwar hauptsächlich Werke kirchlichen Inhalts, sofern bei
ausgedehntern Vocalcompositionen, die nicht dieser Sphäre angehören, die Noth-
wendigkeit einer selbständigern Mitwirkung der Instrumentalmusik sich so sehr
geltend macht, daß sie nicht der Vocal-, sondern der aus der Vereinigung beider
2. Hauptzweige entstehenden Gattung beigezählt werden müssen. Die verschiedenen
Arten kirchlicher Gesangwerke unterliegen, sofern sie der Musik zum Theil von
außen her durch die Institutionen des Cultus gegeben sind, keiner strengern
musikwissenschaftlichen Bestimmung; doch lassen sich im Allgemeinen unterscheiden
Werke, in welchen die einfache mehr beschauliche Versenkung des Gemüths in
einen religiösen Inhalt vorherrscht, dann solche, in denen ein gehobenerer mehr
lyrischer Aufschwung zum Unendlichen das Charakteristische ist, endlich solche,
welche, die zwei ersten Arten in sich aufnehmend, den religiösen Inhalt in seiner

Kraft und Vollſtimmigkeit, welcher der Männerchor fähig iſt, zur vollſtän-
digen Anwendung gelangt. Mit dem Männerchor wird ſo die Kunſtmuſik
unmittelbar praktiſch, ſie tritt in’s Leben hinein oder zurück mit einigender,
erhebender, maſſenverſchmelzender, allbegeiſternder Kraft; der Männerchor
bildet die Brücke, über welche die Kunſtmuſik überhaupt, auch mit ihren
ſtrengern Formen, allmälig in’s Leben der Geſammtheit hinüber ſich ver-
pflanzen kann, er macht auch die Kunſtmuſik zur Volksmuſik, er zieht ſie
aus der engen Sphäre muſikaliſcher Gelehrſamkeit heraus und führt ſie auf
den Schauplatz der Oeffentlichkeit, um auch dem nationalen Geſammtleben
die erwärmende und einigende Kraft der Tonkunſt einzuhauchen und Das-
jenige, was dort bereits als Gefühl in den Einzelnen lebt, durch die Macht
des Geſangs zu einem alles verſchmelzenden und in immer weitern Kreiſen
zündenden Geſammtheitsausdruck zu bringen. Weiter findet ſich dieß Alles
ausgeführt in der Schrift „der volksthümliche deutſche Männergeſang“ von
Dr. O. Elben, in welcher zugleich die hiſtoriſchen Nachweiſungen über die
allmälige Herausbildung dieſer Muſikform gegeben ſind. Unter den „Män-
nergeſang“ fällt natürlich auch das von Männerſtimmen vorgetragene Chor-
lied (§. 801), und auch von ihm gilt bis zu einem gewiſſen Grade, was
im gegenwärtigen §. über den Männerchor geſagt wurde; aber die drei
Puncte, daß durch ihn der Kunſtgeſang national, der Volksgeſang kunſt-
mäßig und (durch die Stimmführung) ein ſich freier individualiſirender
wird, gehören dem Männerchor eigenthümlich an und machen ihn zu einer
ganz beſonders wichtigen, in ſeiner Art einzig daſtehenden Form der Ge-
ſammtmuſik.

§. 804.

1.

Die Combination der verſchiedenen homophonen und polyphonen Formen
macht es der Muſik möglich, zuſammenhängende größere Geſangwerke
zu ſchaffen, und zwar hauptſächlich Werke kirchlichen Inhalts, ſofern bei
ausgedehntern Vocalcompoſitionen, die nicht dieſer Sphäre angehören, die Noth-
wendigkeit einer ſelbſtändigern Mitwirkung der Inſtrumentalmuſik ſich ſo ſehr
geltend macht, daß ſie nicht der Vocal-, ſondern der aus der Vereinigung beider
2. Hauptzweige entſtehenden Gattung beigezählt werden müſſen. Die verſchiedenen
Arten kirchlicher Geſangwerke unterliegen, ſofern ſie der Muſik zum Theil von
außen her durch die Inſtitutionen des Cultus gegeben ſind, keiner ſtrengern
muſikwiſſenſchaftlichen Beſtimmung; doch laſſen ſich im Allgemeinen unterſcheiden
Werke, in welchen die einfache mehr beſchauliche Verſenkung des Gemüths in
einen religiöſen Inhalt vorherrſcht, dann ſolche, in denen ein gehobenerer mehr
lyriſcher Aufſchwung zum Unendlichen das Charakteriſtiſche iſt, endlich ſolche,
welche, die zwei erſten Arten in ſich aufnehmend, den religiöſen Inhalt in ſeiner

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[1016/0254] Kraft und Vollſtimmigkeit, welcher der Männerchor fähig iſt, zur vollſtän- digen Anwendung gelangt. Mit dem Männerchor wird ſo die Kunſtmuſik unmittelbar praktiſch, ſie tritt in’s Leben hinein oder zurück mit einigender, erhebender, maſſenverſchmelzender, allbegeiſternder Kraft; der Männerchor bildet die Brücke, über welche die Kunſtmuſik überhaupt, auch mit ihren ſtrengern Formen, allmälig in’s Leben der Geſammtheit hinüber ſich ver- pflanzen kann, er macht auch die Kunſtmuſik zur Volksmuſik, er zieht ſie aus der engen Sphäre muſikaliſcher Gelehrſamkeit heraus und führt ſie auf den Schauplatz der Oeffentlichkeit, um auch dem nationalen Geſammtleben die erwärmende und einigende Kraft der Tonkunſt einzuhauchen und Das- jenige, was dort bereits als Gefühl in den Einzelnen lebt, durch die Macht des Geſangs zu einem alles verſchmelzenden und in immer weitern Kreiſen zündenden Geſammtheitsausdruck zu bringen. Weiter findet ſich dieß Alles ausgeführt in der Schrift „der volksthümliche deutſche Männergeſang“ von Dr. O. Elben, in welcher zugleich die hiſtoriſchen Nachweiſungen über die allmälige Herausbildung dieſer Muſikform gegeben ſind. Unter den „Män- nergeſang“ fällt natürlich auch das von Männerſtimmen vorgetragene Chor- lied (§. 801), und auch von ihm gilt bis zu einem gewiſſen Grade, was im gegenwärtigen §. über den Männerchor geſagt wurde; aber die drei Puncte, daß durch ihn der Kunſtgeſang national, der Volksgeſang kunſt- mäßig und (durch die Stimmführung) ein ſich freier individualiſirender wird, gehören dem Männerchor eigenthümlich an und machen ihn zu einer ganz beſonders wichtigen, in ſeiner Art einzig daſtehenden Form der Ge- ſammtmuſik. §. 804. Die Combination der verſchiedenen homophonen und polyphonen Formen macht es der Muſik möglich, zuſammenhängende größere Geſangwerke zu ſchaffen, und zwar hauptſächlich Werke kirchlichen Inhalts, ſofern bei ausgedehntern Vocalcompoſitionen, die nicht dieſer Sphäre angehören, die Noth- wendigkeit einer ſelbſtändigern Mitwirkung der Inſtrumentalmuſik ſich ſo ſehr geltend macht, daß ſie nicht der Vocal-, ſondern der aus der Vereinigung beider Hauptzweige entſtehenden Gattung beigezählt werden müſſen. Die verſchiedenen Arten kirchlicher Geſangwerke unterliegen, ſofern ſie der Muſik zum Theil von außen her durch die Inſtitutionen des Cultus gegeben ſind, keiner ſtrengern muſikwiſſenſchaftlichen Beſtimmung; doch laſſen ſich im Allgemeinen unterſcheiden Werke, in welchen die einfache mehr beſchauliche Verſenkung des Gemüths in einen religiöſen Inhalt vorherrſcht, dann ſolche, in denen ein gehobenerer mehr lyriſcher Aufſchwung zum Unendlichen das Charakteriſtiſche iſt, endlich ſolche, welche, die zwei erſten Arten in ſich aufnehmend, den religiöſen Inhalt in ſeiner

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1016. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/254>, abgerufen am 16.04.2024.