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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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"Stück," noch kunstloser und ungeregelter als das Volkslied, aber auch
selbst der Liedform fähig, aus welcher sich später das instrumentale Kunstlied
und das weiter ausgeführte instrumentale Cantabile, das liedartige Andante,
Allegretto u. s. w. entwickelt. Weniger Spiel als von Anfang an durch
bestimmte praktische Zwecke bedingt ist die Musik des Tanzes, des Marsches,
der Procession; mit ihr entwickelt sich die Instrumentalmusik nach ihrer der
Vocalmusik entgegengesetzten dynamisch rhythmischen Seite, zuerst ohne alles
melodische Element, allmälig aber dasselbe in sich aufnehmend und es mit
der lebendigen, drastischen Beweglichkeit rhythmischer Musik verschmelzend.
Von dieser Belebung der Melodie durch Rhythmus, des Rhythmus durch
Melodie gehen alle weitern Formen der eigentlichen Instrumentalmusik aus;
die Gebundenheit an den äußern Zweck der Marsch- oder Tanzbegleitung
löst sich, es bilden sich Tonstücke freierer Art, Erweiterungen des "Stücks"
und des Lieds durch Rondo, Variation u. s. w., aus denen sodann wie
von selbst die größern, mehrsätzigen Tonstücke sich zusammenfügen. Dieß
die in der Natur der Sache liegende einfache Gliederung der Instrumental-
musik. Jede der sich in ihr ergebenden Gattungen hat ein bestimmtes Ver-
hältniß zu den verschiedenen Satzarten §. 807 ff., welches bei den einzelnen
zur Sprache kommen muß.

§. 812.

Das einfache Instrumentaltonstück ist eine primitive Phantasieform,
welche durch Anwendung auf die verschiedenen Instrumente sehr mannigfaltig
wird. Der Vocalmusik nähert es sich an, wenn es sich zum Instrumentallied
ausbildet, das als Kunstlied hauptsächlich durch die charakteristische Verschmelzung
der Melodie mit Harmonie Bedeutung gewinnt und daher vorzugsweise den
mehrstimmigen Instrumenten zufällt.

Eine speziellere Aufzählung und Betrachtung der "Stücke" für Horn,
Trompete u. s. f. wäre nach dem über die Charaktere der verschiedenen In-
strumente früher Bemerkten überflüssig; eine kurze Besprechung erfordert blos
das instrumentale Kunstlied, und zwar besonders das "Lied ohne Worte."
Dieses Kunstlied unterliegt der Gefahr, das Vocallied direct nachbilden zu
wollen und damit eine Weichheit und einfache Innigkeit der Melodie zu
erkünsteln, die der Instrumentalmusik ein für allemal versagt ist durch ihr
starreres Material. Deßungeachtet aber ist kein Grund da, es mit der
neusten Schule unbedingt zu verwerfen. Weichheit und Innigkeit sind den
Instrumenten nicht schlechthin versagt, sondern nur graduell; diesen ihnen
verliehenen Grad von Weichheit ihnen wirklich zu entlocken und für sich
hinzustellen, kann nicht unerlaubt sein. So viel aber ist der Bestreitung

„Stück,“ noch kunſtloſer und ungeregelter als das Volkslied, aber auch
ſelbſt der Liedform fähig, aus welcher ſich ſpäter das inſtrumentale Kunſtlied
und das weiter ausgeführte inſtrumentale Cantabile, das liedartige Andante,
Allegretto u. ſ. w. entwickelt. Weniger Spiel als von Anfang an durch
beſtimmte praktiſche Zwecke bedingt iſt die Muſik des Tanzes, des Marſches,
der Proceſſion; mit ihr entwickelt ſich die Inſtrumentalmuſik nach ihrer der
Vocalmuſik entgegengeſetzten dynamiſch rhythmiſchen Seite, zuerſt ohne alles
melodiſche Element, allmälig aber daſſelbe in ſich aufnehmend und es mit
der lebendigen, draſtiſchen Beweglichkeit rhythmiſcher Muſik verſchmelzend.
Von dieſer Belebung der Melodie durch Rhythmus, des Rhythmus durch
Melodie gehen alle weitern Formen der eigentlichen Inſtrumentalmuſik aus;
die Gebundenheit an den äußern Zweck der Marſch- oder Tanzbegleitung
löst ſich, es bilden ſich Tonſtücke freierer Art, Erweiterungen des „Stücks“
und des Lieds durch Rondo, Variation u. ſ. w., aus denen ſodann wie
von ſelbſt die größern, mehrſätzigen Tonſtücke ſich zuſammenfügen. Dieß
die in der Natur der Sache liegende einfache Gliederung der Inſtrumental-
muſik. Jede der ſich in ihr ergebenden Gattungen hat ein beſtimmtes Ver-
hältniß zu den verſchiedenen Satzarten §. 807 ff., welches bei den einzelnen
zur Sprache kommen muß.

§. 812.

Das einfache Inſtrumentaltonſtück iſt eine primitive Phantaſieform,
welche durch Anwendung auf die verſchiedenen Inſtrumente ſehr mannigfaltig
wird. Der Vocalmuſik nähert es ſich an, wenn es ſich zum Inſtrumentallied
ausbildet, das als Kunſtlied hauptſächlich durch die charakteriſtiſche Verſchmelzung
der Melodie mit Harmonie Bedeutung gewinnt und daher vorzugsweiſe den
mehrſtimmigen Inſtrumenten zufällt.

Eine ſpeziellere Aufzählung und Betrachtung der „Stücke“ für Horn,
Trompete u. ſ. f. wäre nach dem über die Charaktere der verſchiedenen In-
ſtrumente früher Bemerkten überflüſſig; eine kurze Beſprechung erfordert blos
das inſtrumentale Kunſtlied, und zwar beſonders das „Lied ohne Worte.“
Dieſes Kunſtlied unterliegt der Gefahr, das Vocallied direct nachbilden zu
wollen und damit eine Weichheit und einfache Innigkeit der Melodie zu
erkünſteln, die der Inſtrumentalmuſik ein für allemal verſagt iſt durch ihr
ſtarreres Material. Deßungeachtet aber iſt kein Grund da, es mit der
neuſten Schule unbedingt zu verwerfen. Weichheit und Innigkeit ſind den
Inſtrumenten nicht ſchlechthin verſagt, ſondern nur graduell; dieſen ihnen
verliehenen Grad von Weichheit ihnen wirklich zu entlocken und für ſich
hinzuſtellen, kann nicht unerlaubt ſein. So viel aber iſt der Beſtreitung

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[1067/0305] „Stück,“ noch kunſtloſer und ungeregelter als das Volkslied, aber auch ſelbſt der Liedform fähig, aus welcher ſich ſpäter das inſtrumentale Kunſtlied und das weiter ausgeführte inſtrumentale Cantabile, das liedartige Andante, Allegretto u. ſ. w. entwickelt. Weniger Spiel als von Anfang an durch beſtimmte praktiſche Zwecke bedingt iſt die Muſik des Tanzes, des Marſches, der Proceſſion; mit ihr entwickelt ſich die Inſtrumentalmuſik nach ihrer der Vocalmuſik entgegengeſetzten dynamiſch rhythmiſchen Seite, zuerſt ohne alles melodiſche Element, allmälig aber daſſelbe in ſich aufnehmend und es mit der lebendigen, draſtiſchen Beweglichkeit rhythmiſcher Muſik verſchmelzend. Von dieſer Belebung der Melodie durch Rhythmus, des Rhythmus durch Melodie gehen alle weitern Formen der eigentlichen Inſtrumentalmuſik aus; die Gebundenheit an den äußern Zweck der Marſch- oder Tanzbegleitung löst ſich, es bilden ſich Tonſtücke freierer Art, Erweiterungen des „Stücks“ und des Lieds durch Rondo, Variation u. ſ. w., aus denen ſodann wie von ſelbſt die größern, mehrſätzigen Tonſtücke ſich zuſammenfügen. Dieß die in der Natur der Sache liegende einfache Gliederung der Inſtrumental- muſik. Jede der ſich in ihr ergebenden Gattungen hat ein beſtimmtes Ver- hältniß zu den verſchiedenen Satzarten §. 807 ff., welches bei den einzelnen zur Sprache kommen muß. §. 812. Das einfache Inſtrumentaltonſtück iſt eine primitive Phantaſieform, welche durch Anwendung auf die verſchiedenen Inſtrumente ſehr mannigfaltig wird. Der Vocalmuſik nähert es ſich an, wenn es ſich zum Inſtrumentallied ausbildet, das als Kunſtlied hauptſächlich durch die charakteriſtiſche Verſchmelzung der Melodie mit Harmonie Bedeutung gewinnt und daher vorzugsweiſe den mehrſtimmigen Inſtrumenten zufällt. Eine ſpeziellere Aufzählung und Betrachtung der „Stücke“ für Horn, Trompete u. ſ. f. wäre nach dem über die Charaktere der verſchiedenen In- ſtrumente früher Bemerkten überflüſſig; eine kurze Beſprechung erfordert blos das inſtrumentale Kunſtlied, und zwar beſonders das „Lied ohne Worte.“ Dieſes Kunſtlied unterliegt der Gefahr, das Vocallied direct nachbilden zu wollen und damit eine Weichheit und einfache Innigkeit der Melodie zu erkünſteln, die der Inſtrumentalmuſik ein für allemal verſagt iſt durch ihr ſtarreres Material. Deßungeachtet aber iſt kein Grund da, es mit der neuſten Schule unbedingt zu verwerfen. Weichheit und Innigkeit ſind den Inſtrumenten nicht ſchlechthin verſagt, ſondern nur graduell; dieſen ihnen verliehenen Grad von Weichheit ihnen wirklich zu entlocken und für ſich hinzuſtellen, kann nicht unerlaubt ſein. So viel aber iſt der Beſtreitung

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1067. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/305>, abgerufen am 28.03.2024.