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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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der Vorstellung, zu welcher das Gefühl in ihr fortgeht, und benützen das
Bild, das sie erzeugt hat, als scheinbaren Zuwachs an Stoff. Die Musik
thut dieß auch, allein sie steht schon vor diesem Stofftausch, von dem es
sich hier noch gar nicht handelt, mit ihr in jenem tiefen Verwandtschafts-
verhältnisse des ursprünglichen Elements. Durch diese Unterscheidung ist
bereits die falsche Folgerung ausgeschlossen, die Musik müsse ausdrücklich
religiöse Empfindungen erregen. Die Religion ruht im Gefühl, aber jener
Fortgang zur Vorstellung ist ihr ganz wesentlich, daher ist nur eine aus-
gesprochene Hinwendung des Gefühls zu den Gestalten des Bilderkreises
dieser Vorstellung eigentlich religiös. In jenem ganz allgemeinen Sinn
einer tiefern Verwandtschaft des Elements dagegen ist alle Musik, selbst
eine gute Tanzmusik, religiös. Die Forderung ist immer nur, daß das
Sinnliche der Stimmung sich in reine Harmonieen auflöse, welche eine
wesentlich versöhnte Empfindung zurücklassen, daß das Fühlen nicht dumpf
im gemeinen Wohlsein oder in der Zerrissenheit des Schmerzes stehen bleibe.
Dieß führt auf das Verhältniß zwischen Lust und Unlust, wovon der
folgende §. handeln wird. Wir fordern auch vom musikalischen Künstler
so wenig, als von dem bildenden und dichtenden eine spezifisch religiöse
oder ethische Richtung, dem Allem ist schon durch §. 392 und in der
metaphysischen Grundlegung durch die Untersuchungen über das Verhältniß
des Schönen zum Guten und zur Religion vorgebeugt. -- Eine andere
Frage aber ist, ob nicht, nachdem das Verhältniß der andern Künste zur
Religion durch Zersetzung des mythischen Bewußtseins sich aufgelöst, die
Musik in diesem Bunde, und zwar hier als ausdrücklich religiöse, ver-
harren könne? Diese Frage entsteht darum, weil das Gefühl gegenstandslos
ist. Wir haben nämlich zwar gesagt, die Religion setze wesentlich ihrer
Gefühlserhebung einen mythischen Gegenstand; es ist aber doch denkbar,
daß eine Zeit kommt, wo sie dem entwächst und als ihren wahren Gegen-
stand den verborgenen Kern alles Mythus, die reine Idee in der wunder-
losen Energie der Wirklichkeit erkennt; dieser Gegenstand würde im Worte
nur sehr ungenügend ausgedrückt, weil er eben kein einzelner Gegenstand
ist und nur die Philosophie das rein Allgemeine zu bestimmen vermag.
Die Musik aber als Kunst des objectlosen Gefühls wäre gerade die rechte
Form, das Gemüth zu dem unsichtbaren Geiste des Ganzen zu erheben
und den Verlust der bildenden Phantasie durch die tiefen Bewegungen der
empfindenden zu ersetzen.

§. 751.

1. Unterschiedslos in Vergleichung mit allem objectiv bestimmten Verhalten
ist das Gefühl doch in sich eine Welt bestimmter Unterschiede und Gegen-
sätze
, und auf diesen muß die Möglichkeit einer Darstellung desselben beruhen.

der Vorſtellung, zu welcher das Gefühl in ihr fortgeht, und benützen das
Bild, das ſie erzeugt hat, als ſcheinbaren Zuwachs an Stoff. Die Muſik
thut dieß auch, allein ſie ſteht ſchon vor dieſem Stofftauſch, von dem es
ſich hier noch gar nicht handelt, mit ihr in jenem tiefen Verwandtſchafts-
verhältniſſe des urſprünglichen Elements. Durch dieſe Unterſcheidung iſt
bereits die falſche Folgerung ausgeſchloſſen, die Muſik müſſe ausdrücklich
religiöſe Empfindungen erregen. Die Religion ruht im Gefühl, aber jener
Fortgang zur Vorſtellung iſt ihr ganz weſentlich, daher iſt nur eine aus-
geſprochene Hinwendung des Gefühls zu den Geſtalten des Bilderkreiſes
dieſer Vorſtellung eigentlich religiös. In jenem ganz allgemeinen Sinn
einer tiefern Verwandtſchaft des Elements dagegen iſt alle Muſik, ſelbſt
eine gute Tanzmuſik, religiös. Die Forderung iſt immer nur, daß das
Sinnliche der Stimmung ſich in reine Harmonieen auflöſe, welche eine
weſentlich verſöhnte Empfindung zurücklaſſen, daß das Fühlen nicht dumpf
im gemeinen Wohlſein oder in der Zerriſſenheit des Schmerzes ſtehen bleibe.
Dieß führt auf das Verhältniß zwiſchen Luſt und Unluſt, wovon der
folgende §. handeln wird. Wir fordern auch vom muſikaliſchen Künſtler
ſo wenig, als von dem bildenden und dichtenden eine ſpezifiſch religiöſe
oder ethiſche Richtung, dem Allem iſt ſchon durch §. 392 und in der
metaphyſiſchen Grundlegung durch die Unterſuchungen über das Verhältniß
des Schönen zum Guten und zur Religion vorgebeugt. — Eine andere
Frage aber iſt, ob nicht, nachdem das Verhältniß der andern Künſte zur
Religion durch Zerſetzung des mythiſchen Bewußtſeins ſich aufgelöst, die
Muſik in dieſem Bunde, und zwar hier als ausdrücklich religiöſe, ver-
harren könne? Dieſe Frage entſteht darum, weil das Gefühl gegenſtandslos
iſt. Wir haben nämlich zwar geſagt, die Religion ſetze weſentlich ihrer
Gefühlserhebung einen mythiſchen Gegenſtand; es iſt aber doch denkbar,
daß eine Zeit kommt, wo ſie dem entwächst und als ihren wahren Gegen-
ſtand den verborgenen Kern alles Mythus, die reine Idee in der wunder-
loſen Energie der Wirklichkeit erkennt; dieſer Gegenſtand würde im Worte
nur ſehr ungenügend ausgedrückt, weil er eben kein einzelner Gegenſtand
iſt und nur die Philoſophie das rein Allgemeine zu beſtimmen vermag.
Die Muſik aber als Kunſt des objectloſen Gefühls wäre gerade die rechte
Form, das Gemüth zu dem unſichtbaren Geiſte des Ganzen zu erheben
und den Verluſt der bildenden Phantaſie durch die tiefen Bewegungen der
empfindenden zu erſetzen.

§. 751.

1. Unterſchiedslos in Vergleichung mit allem objectiv beſtimmten Verhalten
iſt das Gefühl doch in ſich eine Welt beſtimmter Unterſchiede und Gegen-
ſätze
, und auf dieſen muß die Möglichkeit einer Darſtellung deſſelben beruhen.

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[794/0032] der Vorſtellung, zu welcher das Gefühl in ihr fortgeht, und benützen das Bild, das ſie erzeugt hat, als ſcheinbaren Zuwachs an Stoff. Die Muſik thut dieß auch, allein ſie ſteht ſchon vor dieſem Stofftauſch, von dem es ſich hier noch gar nicht handelt, mit ihr in jenem tiefen Verwandtſchafts- verhältniſſe des urſprünglichen Elements. Durch dieſe Unterſcheidung iſt bereits die falſche Folgerung ausgeſchloſſen, die Muſik müſſe ausdrücklich religiöſe Empfindungen erregen. Die Religion ruht im Gefühl, aber jener Fortgang zur Vorſtellung iſt ihr ganz weſentlich, daher iſt nur eine aus- geſprochene Hinwendung des Gefühls zu den Geſtalten des Bilderkreiſes dieſer Vorſtellung eigentlich religiös. In jenem ganz allgemeinen Sinn einer tiefern Verwandtſchaft des Elements dagegen iſt alle Muſik, ſelbſt eine gute Tanzmuſik, religiös. Die Forderung iſt immer nur, daß das Sinnliche der Stimmung ſich in reine Harmonieen auflöſe, welche eine weſentlich verſöhnte Empfindung zurücklaſſen, daß das Fühlen nicht dumpf im gemeinen Wohlſein oder in der Zerriſſenheit des Schmerzes ſtehen bleibe. Dieß führt auf das Verhältniß zwiſchen Luſt und Unluſt, wovon der folgende §. handeln wird. Wir fordern auch vom muſikaliſchen Künſtler ſo wenig, als von dem bildenden und dichtenden eine ſpezifiſch religiöſe oder ethiſche Richtung, dem Allem iſt ſchon durch §. 392 und in der metaphyſiſchen Grundlegung durch die Unterſuchungen über das Verhältniß des Schönen zum Guten und zur Religion vorgebeugt. — Eine andere Frage aber iſt, ob nicht, nachdem das Verhältniß der andern Künſte zur Religion durch Zerſetzung des mythiſchen Bewußtſeins ſich aufgelöst, die Muſik in dieſem Bunde, und zwar hier als ausdrücklich religiöſe, ver- harren könne? Dieſe Frage entſteht darum, weil das Gefühl gegenſtandslos iſt. Wir haben nämlich zwar geſagt, die Religion ſetze weſentlich ihrer Gefühlserhebung einen mythiſchen Gegenſtand; es iſt aber doch denkbar, daß eine Zeit kommt, wo ſie dem entwächst und als ihren wahren Gegen- ſtand den verborgenen Kern alles Mythus, die reine Idee in der wunder- loſen Energie der Wirklichkeit erkennt; dieſer Gegenſtand würde im Worte nur ſehr ungenügend ausgedrückt, weil er eben kein einzelner Gegenſtand iſt und nur die Philoſophie das rein Allgemeine zu beſtimmen vermag. Die Muſik aber als Kunſt des objectloſen Gefühls wäre gerade die rechte Form, das Gemüth zu dem unſichtbaren Geiſte des Ganzen zu erheben und den Verluſt der bildenden Phantaſie durch die tiefen Bewegungen der empfindenden zu erſetzen. §. 751. Unterſchiedslos in Vergleichung mit allem objectiv beſtimmten Verhalten iſt das Gefühl doch in ſich eine Welt beſtimmter Unterſchiede und Gegen- ſätze, und auf dieſen muß die Möglichkeit einer Darſtellung deſſelben beruhen. 1.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 794. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/32>, abgerufen am 28.03.2024.