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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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sich in's Unendliche expandiren zu können, und sie neigt sich diesem Extreme
von Zeit zu Zeit wirklich zu, weil der Gefühlsausdruck einmal in absolute
Form sich nicht bannen läßt. Mit dem Bisherigen ist jedoch nicht gesagt,
daß der directe Idealismus blos auf Seiten des Form-, der indirecte blos
auf Seiten des Freiheitsprinzips stehe; beide Gegensätze sind nicht identisch,
sie berühren sich zwar mit einander, aber sie haben auch noch eine zweite
Seite, von welcher aus ihr Verhältniß eine andere Gestalt annimmt. Der
directe Idealismus hält die Form entschieden fest, aber er ist nicht forma-
listisch, er geht auf schönen Ausdruck des Einzelnen, er sucht die typischen
Formen, wo er sich ihrer bedient, freier und belebter, einfacher und durch-
sichtiger zu machen (wie z. B. die römische Schule Canon und Contrapunct,
Mozart die Fuge); der indirecte Idealismus dagegen kann (wie bei S. Bach)
sehr gut auch in typische Formen seinen tiefern Ausdruck, seine schärfere
Charakteristik, seine dunklern Harmonieen, seine kräftigern Farben legen,
obwohl er allerdings nur dann ganz in seiner Sphäre ist und vollkommen
sich verwirklicht, wenn er die Form zerbricht und frei dem Fluge des indi-
viduellen Genius folgt; die beiden Gegensätze decken also einander nicht ganz,
wie dieß schon in §. 792 u. f. sich geltend machte, sie durchkreuzen sich viel-
mehr blos an einigen Puncten. Der Gegensatz des directen und indirecten
Idealismus ist dem zwischen Form- und Freiheitsprinzip nicht subordinirt
als bloße Spezification von ihm, sondern er steht neben, ja über ihm, denn
er ist ein concreter Gegensatz, dessen beide Seiten wirklich etwas musikalisch
Ganzes für sich sind, während der zwischen Form- und Freiheitsprinzip ein
abstracter Gegensatz ist, der in seiner Reinheit gar nicht erscheinen kann,
weil weder die abstracte Form noch die abstracte Bewegungsfreiheit noch
Musik wäre; aber auch der abstractere Gegensatz ist in der Musik von sehr
großer historischer Bedeutung, welche darauf beruht, daß die Musik einer-
seits nach festen Formen ringen muß, um ein Gesetz zu haben, und andrer-
seits durch sich selbst doch stets wieder über sie hinausgetrieben wird; es
wird sich zeigen, daß das Freiheitsprinzip zuletzt nicht blos gegen die Form,
sondern gegen den Inhalt und Ausdruck selbst negativ wird und so die
extremste Subjectivität in der Musik Raum gewinnt.

§. 823.

Das Alterthum bringt es vermöge seines plastischen Charakters bis
zur Herstellung eines künstlerisch brauchbaren, ausdrucksfähigen Tonmaterials,
aber es sucht den Ausdruck in diesem künstlerisch gegliederten Material selbst,
in der auf scharffühlende Unterscheidung gegründeten Verwendung der in den
Charakteren (Stimmungsunterschieden) der verschiedenen Tonlagen, Tonge-
schlechter, Tonarten, Rhythmen, Instrumentengattungen gegebenen allgemeinen

ſich in’s Unendliche expandiren zu können, und ſie neigt ſich dieſem Extreme
von Zeit zu Zeit wirklich zu, weil der Gefühlsausdruck einmal in abſolute
Form ſich nicht bannen läßt. Mit dem Bisherigen iſt jedoch nicht geſagt,
daß der directe Idealiſmus blos auf Seiten des Form-, der indirecte blos
auf Seiten des Freiheitsprinzips ſtehe; beide Gegenſätze ſind nicht identiſch,
ſie berühren ſich zwar mit einander, aber ſie haben auch noch eine zweite
Seite, von welcher aus ihr Verhältniß eine andere Geſtalt annimmt. Der
directe Idealiſmus hält die Form entſchieden feſt, aber er iſt nicht forma-
liſtiſch, er geht auf ſchönen Ausdruck des Einzelnen, er ſucht die typiſchen
Formen, wo er ſich ihrer bedient, freier und belebter, einfacher und durch-
ſichtiger zu machen (wie z. B. die römiſche Schule Canon und Contrapunct,
Mozart die Fuge); der indirecte Idealiſmus dagegen kann (wie bei S. Bach)
ſehr gut auch in typiſche Formen ſeinen tiefern Ausdruck, ſeine ſchärfere
Charakteriſtik, ſeine dunklern Harmonieen, ſeine kräftigern Farben legen,
obwohl er allerdings nur dann ganz in ſeiner Sphäre iſt und vollkommen
ſich verwirklicht, wenn er die Form zerbricht und frei dem Fluge des indi-
viduellen Genius folgt; die beiden Gegenſätze decken alſo einander nicht ganz,
wie dieß ſchon in §. 792 u. f. ſich geltend machte, ſie durchkreuzen ſich viel-
mehr blos an einigen Puncten. Der Gegenſatz des directen und indirecten
Idealiſmus iſt dem zwiſchen Form- und Freiheitsprinzip nicht ſubordinirt
als bloße Spezification von ihm, ſondern er ſteht neben, ja über ihm, denn
er iſt ein concreter Gegenſatz, deſſen beide Seiten wirklich etwas muſikaliſch
Ganzes für ſich ſind, während der zwiſchen Form- und Freiheitsprinzip ein
abſtracter Gegenſatz iſt, der in ſeiner Reinheit gar nicht erſcheinen kann,
weil weder die abſtracte Form noch die abſtracte Bewegungsfreiheit noch
Muſik wäre; aber auch der abſtractere Gegenſatz iſt in der Muſik von ſehr
großer hiſtoriſcher Bedeutung, welche darauf beruht, daß die Muſik einer-
ſeits nach feſten Formen ringen muß, um ein Geſetz zu haben, und andrer-
ſeits durch ſich ſelbſt doch ſtets wieder über ſie hinausgetrieben wird; es
wird ſich zeigen, daß das Freiheitsprinzip zuletzt nicht blos gegen die Form,
ſondern gegen den Inhalt und Ausdruck ſelbſt negativ wird und ſo die
extremſte Subjectivität in der Muſik Raum gewinnt.

§. 823.

Das Alterthum bringt es vermöge ſeines plaſtiſchen Charakters bis
zur Herſtellung eines künſtleriſch brauchbaren, ausdrucksfähigen Tonmaterials,
aber es ſucht den Ausdruck in dieſem künſtleriſch gegliederten Material ſelbſt,
in der auf ſcharffühlende Unterſcheidung gegründeten Verwendung der in den
Charakteren (Stimmungsunterſchieden) der verſchiedenen Tonlagen, Tonge-
ſchlechter, Tonarten, Rhythmen, Inſtrumentengattungen gegebenen allgemeinen

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[1125/0363] ſich in’s Unendliche expandiren zu können, und ſie neigt ſich dieſem Extreme von Zeit zu Zeit wirklich zu, weil der Gefühlsausdruck einmal in abſolute Form ſich nicht bannen läßt. Mit dem Bisherigen iſt jedoch nicht geſagt, daß der directe Idealiſmus blos auf Seiten des Form-, der indirecte blos auf Seiten des Freiheitsprinzips ſtehe; beide Gegenſätze ſind nicht identiſch, ſie berühren ſich zwar mit einander, aber ſie haben auch noch eine zweite Seite, von welcher aus ihr Verhältniß eine andere Geſtalt annimmt. Der directe Idealiſmus hält die Form entſchieden feſt, aber er iſt nicht forma- liſtiſch, er geht auf ſchönen Ausdruck des Einzelnen, er ſucht die typiſchen Formen, wo er ſich ihrer bedient, freier und belebter, einfacher und durch- ſichtiger zu machen (wie z. B. die römiſche Schule Canon und Contrapunct, Mozart die Fuge); der indirecte Idealiſmus dagegen kann (wie bei S. Bach) ſehr gut auch in typiſche Formen ſeinen tiefern Ausdruck, ſeine ſchärfere Charakteriſtik, ſeine dunklern Harmonieen, ſeine kräftigern Farben legen, obwohl er allerdings nur dann ganz in ſeiner Sphäre iſt und vollkommen ſich verwirklicht, wenn er die Form zerbricht und frei dem Fluge des indi- viduellen Genius folgt; die beiden Gegenſätze decken alſo einander nicht ganz, wie dieß ſchon in §. 792 u. f. ſich geltend machte, ſie durchkreuzen ſich viel- mehr blos an einigen Puncten. Der Gegenſatz des directen und indirecten Idealiſmus iſt dem zwiſchen Form- und Freiheitsprinzip nicht ſubordinirt als bloße Spezification von ihm, ſondern er ſteht neben, ja über ihm, denn er iſt ein concreter Gegenſatz, deſſen beide Seiten wirklich etwas muſikaliſch Ganzes für ſich ſind, während der zwiſchen Form- und Freiheitsprinzip ein abſtracter Gegenſatz iſt, der in ſeiner Reinheit gar nicht erſcheinen kann, weil weder die abſtracte Form noch die abſtracte Bewegungsfreiheit noch Muſik wäre; aber auch der abſtractere Gegenſatz iſt in der Muſik von ſehr großer hiſtoriſcher Bedeutung, welche darauf beruht, daß die Muſik einer- ſeits nach feſten Formen ringen muß, um ein Geſetz zu haben, und andrer- ſeits durch ſich ſelbſt doch ſtets wieder über ſie hinausgetrieben wird; es wird ſich zeigen, daß das Freiheitsprinzip zuletzt nicht blos gegen die Form, ſondern gegen den Inhalt und Ausdruck ſelbſt negativ wird und ſo die extremſte Subjectivität in der Muſik Raum gewinnt. §. 823. Das Alterthum bringt es vermöge ſeines plaſtiſchen Charakters bis zur Herſtellung eines künſtleriſch brauchbaren, ausdrucksfähigen Tonmaterials, aber es ſucht den Ausdruck in dieſem künſtleriſch gegliederten Material ſelbſt, in der auf ſcharffühlende Unterſcheidung gegründeten Verwendung der in den Charakteren (Stimmungsunterſchieden) der verſchiedenen Tonlagen, Tonge- ſchlechter, Tonarten, Rhythmen, Inſtrumentengattungen gegebenen allgemeinen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/363>, abgerufen am 29.03.2024.