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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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von technisch durchgreifender Bedeutung werden, wenn das Gefühl sich in
Kunstform darstellt, es wird aber schon in dessen innerer Welt das Sub-
stanzgefühl dem Subjectgefühle die absolute Basis sein, ohne welche das
letztere sich ganz in's Bodenlose verlöre. Jene Gefühlsschwingungen, die
sich im tiefen Ton darstellen, gemahnen wie das Erhabene, und sie werden
auch vorzüglich dieser Form des Schönen angehören, aber keineswegs allein,
denn in den Bebungen der frei entlassenen Subjectivität, wenn sie die eben
erwähnte Gestalt annehmen, offenbart sich das Furchtbare der Leidenschaft,
der isolirten Kraft, und dieß sind auch Gestalten des Erhabenen; umge-
kehrt kann je nach der Verhältnißstellung die mächtig breite Schwingung,
die im tiefen Ton ihr Abbild sucht, die Ruhe des Schönen, des mit der
Allmacht versöhnten Ich darstellen. Man kann aber diesen Gegensatz um
so weniger mit dem des Erhabenen und Schönen identificiren, da derselbe
überhaupt noch eine ganz andere Bedeutung hat, als diejenige, in der er
hier zuerst aufgeführt wird. Er überbaut, vervielfacht, verschiebt sich nämlich
in's Unendliche, so daß, was in der einen Beziehung die substantiellere, in
anderer die subjectiv gelöstere Empfindung ist; es tritt absolute Relativität
ein und aus den unendlichen Verhältnißstellungen der Glieder des Gegen-
satzes schafft sich das Gefühl, gewiß nicht erst in der Tonwelt, sondern
schon in seinem innern dunkeln Leben, den Apparat seiner ganzen Ent-
wicklung, die Leiter, an welcher sein Leben auf- und niedersteigt. Da aber
die einzelne Stimmung ihre individuelle Farbe hat, so wird in diesen
dunkeln Vorgängen auch etwas sein, was der Tonart entspricht, eine
Neigung, sich auf einer bestimmten Vibrationshöhe der Seele festzusetzen,
sie zur Basis des Gefühlsverlaufs zu nehmen, von ihr auszugehen, auf sie
zurückzutreten.

§. 753.

Auf dieser allgemeinen Grundlage macht sich der Unterschied des Kraft-
verhältnisses
im einzelnen Gefühlsmomente geltend; von besonders durch-
greifender Bedeutung ist aber der weitere eines voll und entschieden hervortre-
tenden oder gedämpften und verhüllten Gefühlscharakters. Endlich faßt sich
die qualitative Haltung des Gefühls in einer Eigenschaft zusammen, welche nur
uneigentlich, als Gefühlsfarbe, bezeichnet werden kann.

Die weiteren Unterschiede, die nun vor uns liegen, sind weit leichter
in ihren innern Ursprung zu verfolgen. Dahin gehört vor Allem die Ver-
schiedenheit der Intensität des Gefühlsmoments, welche den einzelnen Ton
mit stärkerem, härterem, rauherem, oder schwächerem, weicherem, sanfterem
Druck angibt; allerdings tritt dieser Unterschied in seine ganze Bedeutung

von techniſch durchgreifender Bedeutung werden, wenn das Gefühl ſich in
Kunſtform darſtellt, es wird aber ſchon in deſſen innerer Welt das Sub-
ſtanzgefühl dem Subjectgefühle die abſolute Baſis ſein, ohne welche das
letztere ſich ganz in’s Bodenloſe verlöre. Jene Gefühlsſchwingungen, die
ſich im tiefen Ton darſtellen, gemahnen wie das Erhabene, und ſie werden
auch vorzüglich dieſer Form des Schönen angehören, aber keineswegs allein,
denn in den Bebungen der frei entlaſſenen Subjectivität, wenn ſie die eben
erwähnte Geſtalt annehmen, offenbart ſich das Furchtbare der Leidenſchaft,
der iſolirten Kraft, und dieß ſind auch Geſtalten des Erhabenen; umge-
kehrt kann je nach der Verhältnißſtellung die mächtig breite Schwingung,
die im tiefen Ton ihr Abbild ſucht, die Ruhe des Schönen, des mit der
Allmacht verſöhnten Ich darſtellen. Man kann aber dieſen Gegenſatz um
ſo weniger mit dem des Erhabenen und Schönen identificiren, da derſelbe
überhaupt noch eine ganz andere Bedeutung hat, als diejenige, in der er
hier zuerſt aufgeführt wird. Er überbaut, vervielfacht, verſchiebt ſich nämlich
in’s Unendliche, ſo daß, was in der einen Beziehung die ſubſtantiellere, in
anderer die ſubjectiv gelöstere Empfindung iſt; es tritt abſolute Relativität
ein und aus den unendlichen Verhältnißſtellungen der Glieder des Gegen-
ſatzes ſchafft ſich das Gefühl, gewiß nicht erſt in der Tonwelt, ſondern
ſchon in ſeinem innern dunkeln Leben, den Apparat ſeiner ganzen Ent-
wicklung, die Leiter, an welcher ſein Leben auf- und niederſteigt. Da aber
die einzelne Stimmung ihre individuelle Farbe hat, ſo wird in dieſen
dunkeln Vorgängen auch etwas ſein, was der Tonart entſpricht, eine
Neigung, ſich auf einer beſtimmten Vibrationshöhe der Seele feſtzuſetzen,
ſie zur Baſis des Gefühlsverlaufs zu nehmen, von ihr auszugehen, auf ſie
zurückzutreten.

§. 753.

Auf dieſer allgemeinen Grundlage macht ſich der Unterſchied des Kraft-
verhältniſſes
im einzelnen Gefühlsmomente geltend; von beſonders durch-
greifender Bedeutung iſt aber der weitere eines voll und entſchieden hervortre-
tenden oder gedämpften und verhüllten Gefühlscharakters. Endlich faßt ſich
die qualitative Haltung des Gefühls in einer Eigenſchaft zuſammen, welche nur
uneigentlich, als Gefühlsfarbe, bezeichnet werden kann.

Die weiteren Unterſchiede, die nun vor uns liegen, ſind weit leichter
in ihren innern Urſprung zu verfolgen. Dahin gehört vor Allem die Ver-
ſchiedenheit der Intenſität des Gefühlsmoments, welche den einzelnen Ton
mit ſtärkerem, härterem, rauherem, oder ſchwächerem, weicherem, ſanfterem
Druck angibt; allerdings tritt dieſer Unterſchied in ſeine ganze Bedeutung

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[801/0039] von techniſch durchgreifender Bedeutung werden, wenn das Gefühl ſich in Kunſtform darſtellt, es wird aber ſchon in deſſen innerer Welt das Sub- ſtanzgefühl dem Subjectgefühle die abſolute Baſis ſein, ohne welche das letztere ſich ganz in’s Bodenloſe verlöre. Jene Gefühlsſchwingungen, die ſich im tiefen Ton darſtellen, gemahnen wie das Erhabene, und ſie werden auch vorzüglich dieſer Form des Schönen angehören, aber keineswegs allein, denn in den Bebungen der frei entlaſſenen Subjectivität, wenn ſie die eben erwähnte Geſtalt annehmen, offenbart ſich das Furchtbare der Leidenſchaft, der iſolirten Kraft, und dieß ſind auch Geſtalten des Erhabenen; umge- kehrt kann je nach der Verhältnißſtellung die mächtig breite Schwingung, die im tiefen Ton ihr Abbild ſucht, die Ruhe des Schönen, des mit der Allmacht verſöhnten Ich darſtellen. Man kann aber dieſen Gegenſatz um ſo weniger mit dem des Erhabenen und Schönen identificiren, da derſelbe überhaupt noch eine ganz andere Bedeutung hat, als diejenige, in der er hier zuerſt aufgeführt wird. Er überbaut, vervielfacht, verſchiebt ſich nämlich in’s Unendliche, ſo daß, was in der einen Beziehung die ſubſtantiellere, in anderer die ſubjectiv gelöstere Empfindung iſt; es tritt abſolute Relativität ein und aus den unendlichen Verhältnißſtellungen der Glieder des Gegen- ſatzes ſchafft ſich das Gefühl, gewiß nicht erſt in der Tonwelt, ſondern ſchon in ſeinem innern dunkeln Leben, den Apparat ſeiner ganzen Ent- wicklung, die Leiter, an welcher ſein Leben auf- und niederſteigt. Da aber die einzelne Stimmung ihre individuelle Farbe hat, ſo wird in dieſen dunkeln Vorgängen auch etwas ſein, was der Tonart entſpricht, eine Neigung, ſich auf einer beſtimmten Vibrationshöhe der Seele feſtzuſetzen, ſie zur Baſis des Gefühlsverlaufs zu nehmen, von ihr auszugehen, auf ſie zurückzutreten. §. 753. Auf dieſer allgemeinen Grundlage macht ſich der Unterſchied des Kraft- verhältniſſes im einzelnen Gefühlsmomente geltend; von beſonders durch- greifender Bedeutung iſt aber der weitere eines voll und entſchieden hervortre- tenden oder gedämpften und verhüllten Gefühlscharakters. Endlich faßt ſich die qualitative Haltung des Gefühls in einer Eigenſchaft zuſammen, welche nur uneigentlich, als Gefühlsfarbe, bezeichnet werden kann. Die weiteren Unterſchiede, die nun vor uns liegen, ſind weit leichter in ihren innern Urſprung zu verfolgen. Dahin gehört vor Allem die Ver- ſchiedenheit der Intenſität des Gefühlsmoments, welche den einzelnen Ton mit ſtärkerem, härterem, rauherem, oder ſchwächerem, weicherem, ſanfterem Druck angibt; allerdings tritt dieſer Unterſchied in ſeine ganze Bedeutung

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 801. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/39>, abgerufen am 16.04.2024.