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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Es kann hier nicht die Aufgabe sein, Virgil's Aeneis nach allen ihren
Zügen zu schildern, sondern nur, den großen Zusammenhang in's Auge zu
fassen, worin dieses Werk der bewußten, correcten, eleganten Kunst an der
Spitze einer ganzen Gattung und Generation steht, die mit ihm gerade
durch den von ihr selbst thatsächlich anerkannten Maaßstab jenseits der
richtigen Linie, in das Zweifelhafte verwiesen wird. Denn ein Product
der bewußten Kunst, das in allen wesentlichen Zügen der (zwar auf dem
Uebergange zur Kunstpoesie begriffenen, doch in ihrem Wesen noch reinen)
naiven Volkspoesie nachgebildet ist, richtet sich eben durch sich selbst und
bekennt sich als unächt. So erwächst der Satz, der uns im Folgenden
führen wird: daß das Kunst-Epos kein reines Epos ist. Die vollendete
Bildung ist dem Weltzustande nach prosaisch geworden in Staat, Gesell-
schaft u. s. w.; dieser Zustand macht natürlich die Poesie an sich nicht
unmöglich, aber er verweist sie an diejenigen Formen, welche nicht ein
Bild der unmittelbaren schönen Einheit des innern und äußern Lebens im
Großen (im Kleinen ist es etwas Anderes) fordern; denn diesem Zustande
muß man nahe stehen, wenn man ihn künstlerisch wiedergeben will. Ver-
sucht es der Künstler dennoch, so ist er zur Nachahmung genöthigt und
das Ursprüngliche nachahmen ist ein innerer Widerspruch. Besonders deut-
lich zeigt sich dieß am Einwirken der Götter: sie sind nicht mehr lebendig
geglaubt, daher ist es bereits Maschinerie. Allein dieß ist nur ein Aus-
druck davon, wie der Standpunct im Ganzen verloren ist: kein Zug, der
ein flüssig einfaches Natursein des Menschen darstellen soll, hat hier die
Wahrheit, die nur in einer Welt möglich ist, von deren Naivetät auch ihr
inniger Götterglaube Zeugniß gibt. Der Mensch, der das Naturband ge-
lockert hat, lebt tiefer nach innen: das Sentimentale (namentlich in der
Liebe der Dido) wird daher stärker, weit zu stark für das Heldengedicht.
Der römische Geist der That, das mannhaft Gewaltige, Herrschende, Mas-
sen-Bewegende, in der Form feierlich Große (vergl. §. 352 ff., 442 ff.) bleibt
diesem Epos ein unbenommener Ruhm, hat auch epischen Charakter, aber
nicht hinreichenden, das ganze Weltbild episch zu bestimmen. -- Wenn nunmehr
die Poesie sich zu den Hirten begibt, so ist es schon Flucht aus einer
falschen, naturlosen Cultur, der Sehnsucht wohl erscheint ein Bild des
naturvollen Lebens, aber ein beschränkteres, vom großen Schauplatz heimlich
abgelegenes; Virgil's Eklogon und Georgica werden die Stammväter der
modernen Idylle.

§. 876.

Im Mittelalter treten bei zwei Völkern Heldengedichte auf, die ihrem
Kerne nach dem griechischen an ächt epischem Charakter sich zur Seite stellen,
denen aber nicht das Glück einer ununterbrochenen Fortbildung und Abschließ-

Es kann hier nicht die Aufgabe ſein, Virgil’s Aeneis nach allen ihren
Zügen zu ſchildern, ſondern nur, den großen Zuſammenhang in’s Auge zu
faſſen, worin dieſes Werk der bewußten, correcten, eleganten Kunſt an der
Spitze einer ganzen Gattung und Generation ſteht, die mit ihm gerade
durch den von ihr ſelbſt thatſächlich anerkannten Maaßſtab jenſeits der
richtigen Linie, in das Zweifelhafte verwieſen wird. Denn ein Product
der bewußten Kunſt, das in allen weſentlichen Zügen der (zwar auf dem
Uebergange zur Kunſtpoeſie begriffenen, doch in ihrem Weſen noch reinen)
naiven Volkspoeſie nachgebildet iſt, richtet ſich eben durch ſich ſelbſt und
bekennt ſich als unächt. So erwächst der Satz, der uns im Folgenden
führen wird: daß das Kunſt-Epos kein reines Epos iſt. Die vollendete
Bildung iſt dem Weltzuſtande nach proſaiſch geworden in Staat, Geſell-
ſchaft u. ſ. w.; dieſer Zuſtand macht natürlich die Poeſie an ſich nicht
unmöglich, aber er verweist ſie an diejenigen Formen, welche nicht ein
Bild der unmittelbaren ſchönen Einheit des innern und äußern Lebens im
Großen (im Kleinen iſt es etwas Anderes) fordern; denn dieſem Zuſtande
muß man nahe ſtehen, wenn man ihn künſtleriſch wiedergeben will. Ver-
ſucht es der Künſtler dennoch, ſo iſt er zur Nachahmung genöthigt und
das Urſprüngliche nachahmen iſt ein innerer Widerſpruch. Beſonders deut-
lich zeigt ſich dieß am Einwirken der Götter: ſie ſind nicht mehr lebendig
geglaubt, daher iſt es bereits Maſchinerie. Allein dieß iſt nur ein Aus-
druck davon, wie der Standpunct im Ganzen verloren iſt: kein Zug, der
ein flüſſig einfaches Naturſein des Menſchen darſtellen ſoll, hat hier die
Wahrheit, die nur in einer Welt möglich iſt, von deren Naivetät auch ihr
inniger Götterglaube Zeugniß gibt. Der Menſch, der das Naturband ge-
lockert hat, lebt tiefer nach innen: das Sentimentale (namentlich in der
Liebe der Dido) wird daher ſtärker, weit zu ſtark für das Heldengedicht.
Der römiſche Geiſt der That, das mannhaft Gewaltige, Herrſchende, Maſ-
ſen-Bewegende, in der Form feierlich Große (vergl. §. 352 ff., 442 ff.) bleibt
dieſem Epos ein unbenommener Ruhm, hat auch epiſchen Charakter, aber
nicht hinreichenden, das ganze Weltbild epiſch zu beſtimmen. — Wenn nunmehr
die Poeſie ſich zu den Hirten begibt, ſo iſt es ſchon Flucht aus einer
falſchen, naturloſen Cultur, der Sehnſucht wohl erſcheint ein Bild des
naturvollen Lebens, aber ein beſchränkteres, vom großen Schauplatz heimlich
abgelegenes; Virgil’s Eklogon und Georgica werden die Stammväter der
modernen Idylle.

§. 876.

Im Mittelalter treten bei zwei Völkern Heldengedichte auf, die ihrem
Kerne nach dem griechiſchen an ächt epiſchem Charakter ſich zur Seite ſtellen,
denen aber nicht das Glück einer ununterbrochenen Fortbildung und Abſchließ-

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[1292/0156] Es kann hier nicht die Aufgabe ſein, Virgil’s Aeneis nach allen ihren Zügen zu ſchildern, ſondern nur, den großen Zuſammenhang in’s Auge zu faſſen, worin dieſes Werk der bewußten, correcten, eleganten Kunſt an der Spitze einer ganzen Gattung und Generation ſteht, die mit ihm gerade durch den von ihr ſelbſt thatſächlich anerkannten Maaßſtab jenſeits der richtigen Linie, in das Zweifelhafte verwieſen wird. Denn ein Product der bewußten Kunſt, das in allen weſentlichen Zügen der (zwar auf dem Uebergange zur Kunſtpoeſie begriffenen, doch in ihrem Weſen noch reinen) naiven Volkspoeſie nachgebildet iſt, richtet ſich eben durch ſich ſelbſt und bekennt ſich als unächt. So erwächst der Satz, der uns im Folgenden führen wird: daß das Kunſt-Epos kein reines Epos iſt. Die vollendete Bildung iſt dem Weltzuſtande nach proſaiſch geworden in Staat, Geſell- ſchaft u. ſ. w.; dieſer Zuſtand macht natürlich die Poeſie an ſich nicht unmöglich, aber er verweist ſie an diejenigen Formen, welche nicht ein Bild der unmittelbaren ſchönen Einheit des innern und äußern Lebens im Großen (im Kleinen iſt es etwas Anderes) fordern; denn dieſem Zuſtande muß man nahe ſtehen, wenn man ihn künſtleriſch wiedergeben will. Ver- ſucht es der Künſtler dennoch, ſo iſt er zur Nachahmung genöthigt und das Urſprüngliche nachahmen iſt ein innerer Widerſpruch. Beſonders deut- lich zeigt ſich dieß am Einwirken der Götter: ſie ſind nicht mehr lebendig geglaubt, daher iſt es bereits Maſchinerie. Allein dieß iſt nur ein Aus- druck davon, wie der Standpunct im Ganzen verloren iſt: kein Zug, der ein flüſſig einfaches Naturſein des Menſchen darſtellen ſoll, hat hier die Wahrheit, die nur in einer Welt möglich iſt, von deren Naivetät auch ihr inniger Götterglaube Zeugniß gibt. Der Menſch, der das Naturband ge- lockert hat, lebt tiefer nach innen: das Sentimentale (namentlich in der Liebe der Dido) wird daher ſtärker, weit zu ſtark für das Heldengedicht. Der römiſche Geiſt der That, das mannhaft Gewaltige, Herrſchende, Maſ- ſen-Bewegende, in der Form feierlich Große (vergl. §. 352 ff., 442 ff.) bleibt dieſem Epos ein unbenommener Ruhm, hat auch epiſchen Charakter, aber nicht hinreichenden, das ganze Weltbild epiſch zu beſtimmen. — Wenn nunmehr die Poeſie ſich zu den Hirten begibt, ſo iſt es ſchon Flucht aus einer falſchen, naturloſen Cultur, der Sehnſucht wohl erſcheint ein Bild des naturvollen Lebens, aber ein beſchränkteres, vom großen Schauplatz heimlich abgelegenes; Virgil’s Eklogon und Georgica werden die Stammväter der modernen Idylle. §. 876. Im Mittelalter treten bei zwei Völkern Heldengedichte auf, die ihrem Kerne nach dem griechiſchen an ächt epiſchem Charakter ſich zur Seite ſtellen, denen aber nicht das Glück einer ununterbrochenen Fortbildung und Abſchließ-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/156>, abgerufen am 19.04.2024.