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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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nehmen. Mitten im zerreißenden Conflicte bewahrten diese Gestalten dennoch
den griechischen Geist der maaßvoll schönen Naturkraft; aber wie viel davon
sie bewahrten, ebenso viel ungelösten Dunkels und undramatischer Einfach-
heit bleibt in dem Bilde stehen. Nicht so viel, um ihm die Bedeutung
eines Vorbilds zu nehmen, an dem für alle Zeiten das rohere, wildere
Gefühl der neueren Völker sich zu läutern hat, nur so viel, um streng zu
verbieten, daß sie sich je in der ganzen Auffassung unfrei daran binden.
Das classische Drama ist so eine große und herrliche Vorlage, die als
höchste Ausbildung des direct idealen Styls auf einem Boden, wo er kein
volles Recht hat, allem Modernen vor- und gegenüberliegt, ähnlich wie
die classische Malerei (vergl. §. 717), doch ungleich höher, denn es hat
zwar keineswegs alles Spezifische, doch ungleich mehr des Spezifischen der
bestimmten Kunstform ausgebildet, als jene.

§. 905.

Die classische Tragödie spielt auf mythisch-heroischem Boden, die Fabel
und die Motivirung ist einfach, die Composition liebt es, die Handlung, wodurch
die Katastrophe bedingt ist, als geschehen vorauszusetzen, der Personen sind
wenige, die Charaktere mehr Typen, als Individuen, die Schicksals-Idee leidet
an einem unversöhnten Widerspruche (vergl. §. 435. 440). Der Chor, der
stehengebliebene Boden des religiösen Ursprungs, ist episch als Repräsentant des
Volksganzen, lyrisch in der Form und in seiner Bedeutung als idealer Zuschauer,
der dem empirischen vorempfindet; er hält das Band der Poesie mit der Musik
und Orchestik fest.

Auf den ungemeinen Vortheil, der dem griechischen Tragiker aus jenen
großen Stoffen der Heldensage erwuchs, haben wir schon öfters hingezeigt;
eine von der Volksphantasie schon umgebildete Wirklichkeit kam ihm entgegen,
das Bild einer Zeit, worin ungeheure Kräfte ungebunden von aller Mecha-
nisirung des Staatslebens ihren Schicksalsweg gehen, und er hatte nur
"Poesie auf Poesie zu impfen" (W. Schlegel Vorles. über dram. Kunst und
Lit. Th. 1, S. 80); doch darf man nicht übersehen, daß das Verweilen
auf dem mythisch sagenhaften Boden, der Ausschluß des klaren Tages der
Geschichte (wo er betreten wird, geschieht es nur in Anknüpfung an Mythi-
sches oder in der Weise mythischer Stellvertretung für das Historische)
zugleich mit der Großheit auch die aus der Transcendenz des Standpunctes
fließenden Mängel dieser Tragödie bedingt. Die Großheit ruht vor Allem
auf der Einfachheit einer Menschenwelt von unentwickelter, aber auch unge-
brochener, objectiv bestimmter, monumentaler Subjectivität. Damit hängt
sogleich auch die Einfachheit der Fabel zusammen, denn es ist nicht das

nehmen. Mitten im zerreißenden Conflicte bewahrten dieſe Geſtalten dennoch
den griechiſchen Geiſt der maaßvoll ſchönen Naturkraft; aber wie viel davon
ſie bewahrten, ebenſo viel ungelösten Dunkels und undramatiſcher Einfach-
heit bleibt in dem Bilde ſtehen. Nicht ſo viel, um ihm die Bedeutung
eines Vorbilds zu nehmen, an dem für alle Zeiten das rohere, wildere
Gefühl der neueren Völker ſich zu läutern hat, nur ſo viel, um ſtreng zu
verbieten, daß ſie ſich je in der ganzen Auffaſſung unfrei daran binden.
Das claſſiſche Drama iſt ſo eine große und herrliche Vorlage, die als
höchſte Ausbildung des direct idealen Styls auf einem Boden, wo er kein
volles Recht hat, allem Modernen vor- und gegenüberliegt, ähnlich wie
die claſſiſche Malerei (vergl. §. 717), doch ungleich höher, denn es hat
zwar keineswegs alles Spezifiſche, doch ungleich mehr des Spezifiſchen der
beſtimmten Kunſtform ausgebildet, als jene.

§. 905.

Die claſſiſche Tragödie ſpielt auf mythiſch-heroiſchem Boden, die Fabel
und die Motivirung iſt einfach, die Compoſition liebt es, die Handlung, wodurch
die Kataſtrophe bedingt iſt, als geſchehen vorauszuſetzen, der Perſonen ſind
wenige, die Charaktere mehr Typen, als Individuen, die Schickſals-Idee leidet
an einem unverſöhnten Widerſpruche (vergl. §. 435. 440). Der Chor, der
ſtehengebliebene Boden des religiöſen Urſprungs, iſt epiſch als Repräſentant des
Volksganzen, lyriſch in der Form und in ſeiner Bedeutung als idealer Zuſchauer,
der dem empiriſchen vorempfindet; er hält das Band der Poeſie mit der Muſik
und Orcheſtik feſt.

Auf den ungemeinen Vortheil, der dem griechiſchen Tragiker aus jenen
großen Stoffen der Heldenſage erwuchs, haben wir ſchon öfters hingezeigt;
eine von der Volksphantaſie ſchon umgebildete Wirklichkeit kam ihm entgegen,
das Bild einer Zeit, worin ungeheure Kräfte ungebunden von aller Mecha-
niſirung des Staatslebens ihren Schickſalsweg gehen, und er hatte nur
„Poeſie auf Poeſie zu impfen“ (W. Schlegel Vorleſ. über dram. Kunſt und
Lit. Th. 1, S. 80); doch darf man nicht überſehen, daß das Verweilen
auf dem mythiſch ſagenhaften Boden, der Ausſchluß des klaren Tages der
Geſchichte (wo er betreten wird, geſchieht es nur in Anknüpfung an Mythi-
ſches oder in der Weiſe mythiſcher Stellvertretung für das Hiſtoriſche)
zugleich mit der Großheit auch die aus der Tranſcendenz des Standpunctes
fließenden Mängel dieſer Tragödie bedingt. Die Großheit ruht vor Allem
auf der Einfachheit einer Menſchenwelt von unentwickelter, aber auch unge-
brochener, objectiv beſtimmter, monumentaler Subjectivität. Damit hängt
ſogleich auch die Einfachheit der Fabel zuſammen, denn es iſt nicht das

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[1408/0272] nehmen. Mitten im zerreißenden Conflicte bewahrten dieſe Geſtalten dennoch den griechiſchen Geiſt der maaßvoll ſchönen Naturkraft; aber wie viel davon ſie bewahrten, ebenſo viel ungelösten Dunkels und undramatiſcher Einfach- heit bleibt in dem Bilde ſtehen. Nicht ſo viel, um ihm die Bedeutung eines Vorbilds zu nehmen, an dem für alle Zeiten das rohere, wildere Gefühl der neueren Völker ſich zu läutern hat, nur ſo viel, um ſtreng zu verbieten, daß ſie ſich je in der ganzen Auffaſſung unfrei daran binden. Das claſſiſche Drama iſt ſo eine große und herrliche Vorlage, die als höchſte Ausbildung des direct idealen Styls auf einem Boden, wo er kein volles Recht hat, allem Modernen vor- und gegenüberliegt, ähnlich wie die claſſiſche Malerei (vergl. §. 717), doch ungleich höher, denn es hat zwar keineswegs alles Spezifiſche, doch ungleich mehr des Spezifiſchen der beſtimmten Kunſtform ausgebildet, als jene. §. 905. Die claſſiſche Tragödie ſpielt auf mythiſch-heroiſchem Boden, die Fabel und die Motivirung iſt einfach, die Compoſition liebt es, die Handlung, wodurch die Kataſtrophe bedingt iſt, als geſchehen vorauszuſetzen, der Perſonen ſind wenige, die Charaktere mehr Typen, als Individuen, die Schickſals-Idee leidet an einem unverſöhnten Widerſpruche (vergl. §. 435. 440). Der Chor, der ſtehengebliebene Boden des religiöſen Urſprungs, iſt epiſch als Repräſentant des Volksganzen, lyriſch in der Form und in ſeiner Bedeutung als idealer Zuſchauer, der dem empiriſchen vorempfindet; er hält das Band der Poeſie mit der Muſik und Orcheſtik feſt. Auf den ungemeinen Vortheil, der dem griechiſchen Tragiker aus jenen großen Stoffen der Heldenſage erwuchs, haben wir ſchon öfters hingezeigt; eine von der Volksphantaſie ſchon umgebildete Wirklichkeit kam ihm entgegen, das Bild einer Zeit, worin ungeheure Kräfte ungebunden von aller Mecha- niſirung des Staatslebens ihren Schickſalsweg gehen, und er hatte nur „Poeſie auf Poeſie zu impfen“ (W. Schlegel Vorleſ. über dram. Kunſt und Lit. Th. 1, S. 80); doch darf man nicht überſehen, daß das Verweilen auf dem mythiſch ſagenhaften Boden, der Ausſchluß des klaren Tages der Geſchichte (wo er betreten wird, geſchieht es nur in Anknüpfung an Mythi- ſches oder in der Weiſe mythiſcher Stellvertretung für das Hiſtoriſche) zugleich mit der Großheit auch die aus der Tranſcendenz des Standpunctes fließenden Mängel dieſer Tragödie bedingt. Die Großheit ruht vor Allem auf der Einfachheit einer Menſchenwelt von unentwickelter, aber auch unge- brochener, objectiv beſtimmter, monumentaler Subjectivität. Damit hängt ſogleich auch die Einfachheit der Fabel zuſammen, denn es iſt nicht das

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/272>, abgerufen am 29.03.2024.