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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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§. 906.

Streng geschieden von der Tragödie bewegt sich die classische Komödie
zwar auf dem Boden der realen Gegenwart und ihr Humor ruht auf der Grund-
lage der politischen Satyre, ihrem Style nach aber ist sie mythisch phantastisch,
das reine Gegenbild der ersteren. Dagegen tritt hier innerhalb des classischen
Ideals ein Stylgegensatz, der im tragischen Gebiete schwächer angedeutet ist,
mit relativer Entschiedenheit in der neueren Komödie hervor.

Im ernsten Drama des classischen Ideals war durch den plastischen
Geist und sein Stylgesetz des directen Idealismus, welches Schönheit der
einzelnen Gestalt forderte, durch die hierin begründete Einfachheit der Charak-
tere, durch die dunkle, drohende Wolke des Schicksals, die es nicht gestattete,
daß der Mensch sich seiner unendlichen subjectiven Freiheit erinnerte, der
Uebergang in das Komische streng ausgeschlossen. Kaum ein ferner Ton
ist z. B. dem Wächter in der Antigone angehaucht und auch hier ist die
Vorstellung anziehend, was wohl Shakespeare daraus entwickelt hätte. In
der antiken Komödie nun, die wegen der Stylfrage hier einzuführen ist,
obwohl die betreffende stehende Eintheilung erst nachher aufgeführt wird,
herrscht ebenso unbedingt das Komische in der Handlung. In der Stimmung
allerdings kann ihr ein ernster Grundzug nicht abgehen, vielmehr ist ihr Humor
von den Klängen der erhabensten Gesinnungen und Schmerzen durchzogen.
Was Stoff und Inhalt betrifft, so bringt es das Wesen des Komischen
selbst mit sich, daß im vollen Gegensatze gegen die Tragödie hier die un-
mittelbare empirische Wirklichkeit ergriffen wurde; die ältere, Aristophanische
Komödie hat das große Thema der Auflösungszustände des griechischen
Staats, sie ist in ihrer Grundlage politische Satyre. Die Großheit dieses
Stoffes gibt ihr den monumentalen Charakter und sichert so zunächst nach
dieser Seite im Realistischen den hohen Styl; allein dieses Bild der Auf-
lösung der plastischen Schönheit des griechischen Lebens ist noch in einem
andern Sinne selbst plastisch: es objectivirt den Geist der Komik in einer
Parodie der mythischen Welt, worauf die Tragödie ruht, nimmt so die
Gestalt des greiflich wunderbar Komischen, des Grotesken an, treibt zugleich
die porträtirten Persönlichkeiten zur phantastischen Caricatur auf und erhebt
sich von der Grundlage der Satyre in den ausgelassensten Humor. Dagegen
bildet nun die neuere Komödie der Griechen einen vollen Gegensatz; der
monumentale politische Boden und mit ihm das Reich der kolossalen komi-
schen Wunder wird verlassen, sie steigt in das Privatleben herab, wird
sittenbildlich, naturalistisch, es tritt in den classischen Styl der charakteristische
ein. Vergleicht man sie jedoch mit dem Ganzen des letzteren Styls in
seiner wirklichen und vollständigen Ausbildung, so ist der Gegensatz gegen

§. 906.

Streng geſchieden von der Tragödie bewegt ſich die claſſiſche Komödie
zwar auf dem Boden der realen Gegenwart und ihr Humor ruht auf der Grund-
lage der politiſchen Satyre, ihrem Style nach aber iſt ſie mythiſch phantaſtiſch,
das reine Gegenbild der erſteren. Dagegen tritt hier innerhalb des claſſiſchen
Ideals ein Stylgegenſatz, der im tragiſchen Gebiete ſchwächer angedeutet iſt,
mit relativer Entſchiedenheit in der neueren Komödie hervor.

Im ernſten Drama des claſſiſchen Ideals war durch den plaſtiſchen
Geiſt und ſein Stylgeſetz des directen Idealiſmus, welches Schönheit der
einzelnen Geſtalt forderte, durch die hierin begründete Einfachheit der Charak-
tere, durch die dunkle, drohende Wolke des Schickſals, die es nicht geſtattete,
daß der Menſch ſich ſeiner unendlichen ſubjectiven Freiheit erinnerte, der
Uebergang in das Komiſche ſtreng ausgeſchloſſen. Kaum ein ferner Ton
iſt z. B. dem Wächter in der Antigone angehaucht und auch hier iſt die
Vorſtellung anziehend, was wohl Shakespeare daraus entwickelt hätte. In
der antiken Komödie nun, die wegen der Stylfrage hier einzuführen iſt,
obwohl die betreffende ſtehende Eintheilung erſt nachher aufgeführt wird,
herrſcht ebenſo unbedingt das Komiſche in der Handlung. In der Stimmung
allerdings kann ihr ein ernſter Grundzug nicht abgehen, vielmehr iſt ihr Humor
von den Klängen der erhabenſten Geſinnungen und Schmerzen durchzogen.
Was Stoff und Inhalt betrifft, ſo bringt es das Weſen des Komiſchen
ſelbſt mit ſich, daß im vollen Gegenſatze gegen die Tragödie hier die un-
mittelbare empiriſche Wirklichkeit ergriffen wurde; die ältere, Ariſtophaniſche
Komödie hat das große Thema der Auflöſungszuſtände des griechiſchen
Staats, ſie iſt in ihrer Grundlage politiſche Satyre. Die Großheit dieſes
Stoffes gibt ihr den monumentalen Charakter und ſichert ſo zunächſt nach
dieſer Seite im Realiſtiſchen den hohen Styl; allein dieſes Bild der Auf-
löſung der plaſtiſchen Schönheit des griechiſchen Lebens iſt noch in einem
andern Sinne ſelbſt plaſtiſch: es objectivirt den Geiſt der Komik in einer
Parodie der mythiſchen Welt, worauf die Tragödie ruht, nimmt ſo die
Geſtalt des greiflich wunderbar Komiſchen, des Grotesken an, treibt zugleich
die porträtirten Perſönlichkeiten zur phantaſtiſchen Caricatur auf und erhebt
ſich von der Grundlage der Satyre in den ausgelaſſenſten Humor. Dagegen
bildet nun die neuere Komödie der Griechen einen vollen Gegenſatz; der
monumentale politiſche Boden und mit ihm das Reich der koloſſalen komi-
ſchen Wunder wird verlaſſen, ſie ſteigt in das Privatleben herab, wird
ſittenbildlich, naturaliſtiſch, es tritt in den claſſiſchen Styl der charakteriſtiſche
ein. Vergleicht man ſie jedoch mit dem Ganzen des letzteren Styls in
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[1412/0276] §. 906. Streng geſchieden von der Tragödie bewegt ſich die claſſiſche Komödie zwar auf dem Boden der realen Gegenwart und ihr Humor ruht auf der Grund- lage der politiſchen Satyre, ihrem Style nach aber iſt ſie mythiſch phantaſtiſch, das reine Gegenbild der erſteren. Dagegen tritt hier innerhalb des claſſiſchen Ideals ein Stylgegenſatz, der im tragiſchen Gebiete ſchwächer angedeutet iſt, mit relativer Entſchiedenheit in der neueren Komödie hervor. Im ernſten Drama des claſſiſchen Ideals war durch den plaſtiſchen Geiſt und ſein Stylgeſetz des directen Idealiſmus, welches Schönheit der einzelnen Geſtalt forderte, durch die hierin begründete Einfachheit der Charak- tere, durch die dunkle, drohende Wolke des Schickſals, die es nicht geſtattete, daß der Menſch ſich ſeiner unendlichen ſubjectiven Freiheit erinnerte, der Uebergang in das Komiſche ſtreng ausgeſchloſſen. Kaum ein ferner Ton iſt z. B. dem Wächter in der Antigone angehaucht und auch hier iſt die Vorſtellung anziehend, was wohl Shakespeare daraus entwickelt hätte. In der antiken Komödie nun, die wegen der Stylfrage hier einzuführen iſt, obwohl die betreffende ſtehende Eintheilung erſt nachher aufgeführt wird, herrſcht ebenſo unbedingt das Komiſche in der Handlung. In der Stimmung allerdings kann ihr ein ernſter Grundzug nicht abgehen, vielmehr iſt ihr Humor von den Klängen der erhabenſten Geſinnungen und Schmerzen durchzogen. Was Stoff und Inhalt betrifft, ſo bringt es das Weſen des Komiſchen ſelbſt mit ſich, daß im vollen Gegenſatze gegen die Tragödie hier die un- mittelbare empiriſche Wirklichkeit ergriffen wurde; die ältere, Ariſtophaniſche Komödie hat das große Thema der Auflöſungszuſtände des griechiſchen Staats, ſie iſt in ihrer Grundlage politiſche Satyre. Die Großheit dieſes Stoffes gibt ihr den monumentalen Charakter und ſichert ſo zunächſt nach dieſer Seite im Realiſtiſchen den hohen Styl; allein dieſes Bild der Auf- löſung der plaſtiſchen Schönheit des griechiſchen Lebens iſt noch in einem andern Sinne ſelbſt plaſtiſch: es objectivirt den Geiſt der Komik in einer Parodie der mythiſchen Welt, worauf die Tragödie ruht, nimmt ſo die Geſtalt des greiflich wunderbar Komiſchen, des Grotesken an, treibt zugleich die porträtirten Perſönlichkeiten zur phantaſtiſchen Caricatur auf und erhebt ſich von der Grundlage der Satyre in den ausgelaſſenſten Humor. Dagegen bildet nun die neuere Komödie der Griechen einen vollen Gegenſatz; der monumentale politiſche Boden und mit ihm das Reich der koloſſalen komi- ſchen Wunder wird verlaſſen, ſie ſteigt in das Privatleben herab, wird ſittenbildlich, naturaliſtiſch, es tritt in den claſſiſchen Styl der charakteriſtiſche ein. Vergleicht man ſie jedoch mit dem Ganzen des letzteren Styls in ſeiner wirklichen und vollſtändigen Ausbildung, ſo iſt der Gegenſatz gegen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/276>, abgerufen am 29.03.2024.