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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Geschichte; im Hamlet liegt es von Anfang bis Ende auf der Reflexion,
die den Willen nicht zum Handeln kommen läßt. Es ist aber bedenklich,
eine eigene Classe solchen Inhalts einzuführen; man kann nur sagen: es
gibt Dramen, in welchen der Haupt-Accent so eben aus der Handlung
und dem Thatsächlichen sich herauszieht und auf die innerlichen Kämpfe
legt; wo aber diese zum ganzen Inhalt werden, da sind sie theoretisch und
solche Werke, wie Göthe's Faust, behalten ihren unendlichen Werth, sind
aber schwebende Formen, die zu wenig Handlung und festen Körper haben,
um eigentliche Dramen genannt zu werden.

Wir haben die neuere Schicksalstragödie als eine Verirrung er-
wähnt. Ist es aber nicht logisch gefordert, daß auch eine Form unter-
schieden werde, die diesen Namen ohne Tadel trägt? Wenn nach der Seite
der Auffassung eingetheilt und danach eine Prinzipien- und Charakter-
tragödie unterschieden wird, so scheint ein dritter Fall übersehen, wo das
Hauptgewicht auf den tragischen Gang der Handlung fällt. Die Alten
hatten eine solche Gattung; Aristoteles (a. a. O.) nennt sie die verwickelte
und erklärt dieß dahin, daß hier das Ganze in Erkennung und Umschwung
bestehe. Der König Oedipus ist das reinste Bild derselben. Allein dieselbe
kann nur in der Poesie des classischen Alterthums auftreten, und zwar deßwegen,
weil nur diese ein vorausgesetztes, neidisch auflauerndes, nicht aus den Hand-
lungen der Menschen sich entwickelndes Schicksal kennt. Was den Griechen
normal war, ist uns abnorm, daher ist eine moderne Schicksals-Tragödie eine
schlechte Tragödie. Anders verhält es sich, wie wir sehen werden, in der
Komödie; hier kann der Gang, die Verwicklung, die Bewegung zum Schlusse
so das Uebergewicht über das komische Pathos und die Charaktere haben,
daß darauf eine durchgreifende Eintheilung zu gründen ist.

§. 912.

Der Unterschied der Auffassung verhält sich zu dem des Stoffes so, daß
am bestimmtesten der historisch politische Schauplatz die Bedingung zu der Prin-
zipien-Tragödie enthält, wogegen der sagenhaft heroische und der bürgerliche,
das Privatleben mehr auf das Charakter- und Sitten-Drama führt; jedoch
beides keineswegs ausschließlich, denn im bürgerlichen Gebiete treten Conflicte
tiefer und allgemeiner Art auf, welche die soziale Prinzipientragödie begründen,
im historisch politischen kann sich der Nachdruck doch dem Charakter zuwenden
und das sagenhaft heroische lädt zu einem gewissen Gleichgewichte von Prinzi-
pien- und Charakter- (oder Sitten-) Tragödie ein.

Daß der historisch politische Stoff am entschiedensten zur Prinzipien-
Tragödie führt, bedarf keines Beweises; dagegen arbeitet die umbildende

Geſchichte; im Hamlet liegt es von Anfang bis Ende auf der Reflexion,
die den Willen nicht zum Handeln kommen läßt. Es iſt aber bedenklich,
eine eigene Claſſe ſolchen Inhalts einzuführen; man kann nur ſagen: es
gibt Dramen, in welchen der Haupt-Accent ſo eben aus der Handlung
und dem Thatſächlichen ſich herauszieht und auf die innerlichen Kämpfe
legt; wo aber dieſe zum ganzen Inhalt werden, da ſind ſie theoretiſch und
ſolche Werke, wie Göthe’s Fauſt, behalten ihren unendlichen Werth, ſind
aber ſchwebende Formen, die zu wenig Handlung und feſten Körper haben,
um eigentliche Dramen genannt zu werden.

Wir haben die neuere Schickſalstragödie als eine Verirrung er-
wähnt. Iſt es aber nicht logiſch gefordert, daß auch eine Form unter-
ſchieden werde, die dieſen Namen ohne Tadel trägt? Wenn nach der Seite
der Auffaſſung eingetheilt und danach eine Prinzipien- und Charakter-
tragödie unterſchieden wird, ſo ſcheint ein dritter Fall überſehen, wo das
Hauptgewicht auf den tragiſchen Gang der Handlung fällt. Die Alten
hatten eine ſolche Gattung; Ariſtoteles (a. a. O.) nennt ſie die verwickelte
und erklärt dieß dahin, daß hier das Ganze in Erkennung und Umſchwung
beſtehe. Der König Oedipus iſt das reinſte Bild derſelben. Allein dieſelbe
kann nur in der Poeſie des claſſiſchen Alterthums auftreten, und zwar deßwegen,
weil nur dieſe ein vorausgeſetztes, neidiſch auflauerndes, nicht aus den Hand-
lungen der Menſchen ſich entwickelndes Schickſal kennt. Was den Griechen
normal war, iſt uns abnorm, daher iſt eine moderne Schickſals-Tragödie eine
ſchlechte Tragödie. Anders verhält es ſich, wie wir ſehen werden, in der
Komödie; hier kann der Gang, die Verwicklung, die Bewegung zum Schluſſe
ſo das Uebergewicht über das komiſche Pathos und die Charaktere haben,
daß darauf eine durchgreifende Eintheilung zu gründen iſt.

§. 912.

Der Unterſchied der Auffaſſung verhält ſich zu dem des Stoffes ſo, daß
am beſtimmteſten der hiſtoriſch politiſche Schauplatz die Bedingung zu der Prin-
zipien-Tragödie enthält, wogegen der ſagenhaft heroiſche und der bürgerliche,
das Privatleben mehr auf das Charakter- und Sitten-Drama führt; jedoch
beides keineswegs ausſchließlich, denn im bürgerlichen Gebiete treten Conflicte
tiefer und allgemeiner Art auf, welche die ſoziale Prinzipientragödie begründen,
im hiſtoriſch politiſchen kann ſich der Nachdruck doch dem Charakter zuwenden
und das ſagenhaft heroiſche lädt zu einem gewiſſen Gleichgewichte von Prinzi-
pien- und Charakter- (oder Sitten-) Tragödie ein.

Daß der hiſtoriſch politiſche Stoff am entſchiedenſten zur Prinzipien-
Tragödie führt, bedarf keines Beweiſes; dagegen arbeitet die umbildende

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[1426/0290] Geſchichte; im Hamlet liegt es von Anfang bis Ende auf der Reflexion, die den Willen nicht zum Handeln kommen läßt. Es iſt aber bedenklich, eine eigene Claſſe ſolchen Inhalts einzuführen; man kann nur ſagen: es gibt Dramen, in welchen der Haupt-Accent ſo eben aus der Handlung und dem Thatſächlichen ſich herauszieht und auf die innerlichen Kämpfe legt; wo aber dieſe zum ganzen Inhalt werden, da ſind ſie theoretiſch und ſolche Werke, wie Göthe’s Fauſt, behalten ihren unendlichen Werth, ſind aber ſchwebende Formen, die zu wenig Handlung und feſten Körper haben, um eigentliche Dramen genannt zu werden. Wir haben die neuere Schickſalstragödie als eine Verirrung er- wähnt. Iſt es aber nicht logiſch gefordert, daß auch eine Form unter- ſchieden werde, die dieſen Namen ohne Tadel trägt? Wenn nach der Seite der Auffaſſung eingetheilt und danach eine Prinzipien- und Charakter- tragödie unterſchieden wird, ſo ſcheint ein dritter Fall überſehen, wo das Hauptgewicht auf den tragiſchen Gang der Handlung fällt. Die Alten hatten eine ſolche Gattung; Ariſtoteles (a. a. O.) nennt ſie die verwickelte und erklärt dieß dahin, daß hier das Ganze in Erkennung und Umſchwung beſtehe. Der König Oedipus iſt das reinſte Bild derſelben. Allein dieſelbe kann nur in der Poeſie des claſſiſchen Alterthums auftreten, und zwar deßwegen, weil nur dieſe ein vorausgeſetztes, neidiſch auflauerndes, nicht aus den Hand- lungen der Menſchen ſich entwickelndes Schickſal kennt. Was den Griechen normal war, iſt uns abnorm, daher iſt eine moderne Schickſals-Tragödie eine ſchlechte Tragödie. Anders verhält es ſich, wie wir ſehen werden, in der Komödie; hier kann der Gang, die Verwicklung, die Bewegung zum Schluſſe ſo das Uebergewicht über das komiſche Pathos und die Charaktere haben, daß darauf eine durchgreifende Eintheilung zu gründen iſt. §. 912. Der Unterſchied der Auffaſſung verhält ſich zu dem des Stoffes ſo, daß am beſtimmteſten der hiſtoriſch politiſche Schauplatz die Bedingung zu der Prin- zipien-Tragödie enthält, wogegen der ſagenhaft heroiſche und der bürgerliche, das Privatleben mehr auf das Charakter- und Sitten-Drama führt; jedoch beides keineswegs ausſchließlich, denn im bürgerlichen Gebiete treten Conflicte tiefer und allgemeiner Art auf, welche die ſoziale Prinzipientragödie begründen, im hiſtoriſch politiſchen kann ſich der Nachdruck doch dem Charakter zuwenden und das ſagenhaft heroiſche lädt zu einem gewiſſen Gleichgewichte von Prinzi- pien- und Charakter- (oder Sitten-) Tragödie ein. Daß der hiſtoriſch politiſche Stoff am entſchiedenſten zur Prinzipien- Tragödie führt, bedarf keines Beweiſes; dagegen arbeitet die umbildende

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/290>, abgerufen am 18.04.2024.