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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Asyndeton und Polysyndeton z. B. drücken deutlich verschiedenen Stimmungs-
rhythmus aus und umgekehrt kann von Klimax und Antiklimax in der Lehre
von der Poesie nur insofern ausdrücklich die Rede sein, als sich Steigerung
und Senkung in der Sprachform niederlegt. Reine Wort- oder Form-
figuren sind nur bestimmte grammatikalische Unregelmäßigkeiten, wie Syn-
kope, Apokope, Zeugma u. s. w., über die weiter nichts zu sagen ist, als
daß sie in der Poesie häufiger vorkommen werden, als in der Prosa, weil die-
selbe auch an dem rein technischen Sprachgesetz ihre Freiheit geltend zu machen
liebt. -- Zu dieser zweiten Ordnung mag, wenn man sie außer ihrem Zu-
sammenhang im komischen Prozesse betrachtet (vergl. §. 201 ff.), auch die
Ironie (mit der Litotes) als Figur gezählt werden, denn man kann sie als
eine Rückhaltung des Sprachflusses auffassen, der sich wie hinter einer
Schleuse spannt, um errathen zu lassen, daß das Verborgene das Gegen-
theil des Sichtbaren ist. -- Bei der dritten Ordnung handelt es sich von
den punctuellen Accenten, welche sich auf den einzelnen Moment der Rede
werfen; hieher gehört die Betonung durch Contrast, wie sie in der Sprach-
form als Inversion, Anaklase, Epanodos, Antithese erscheint. Die letztere
bedeutet hier einen Widerspruch zwischen Subject und Epitheton (z. B. der
arme Reiche), eine sehr wirksame, aber auch leicht zu mißbrauchende Form,
wie sie denn in der Marinischen Jagd nach concetti einst besonders beliebt war.

2. Die Onomatopoesie verhält sich zu dem allgemeinen, stetigen Ein-
klang zwischen Tonfall und Inhalt, der in aller ächten Dichtung mit innerer
Nothwendigkeit herrscht, wie ein vereinzeltes, besonderes Spiel, den nach-
ahmenden Tonspielereien der Musik ähnlich und wie diese nur sparsam
anzuwenden. Der sausende Diskus des Odysseus und der rückwärts zu Thal
polternde Stein des Sisyphus sind berühmte Beispiele aus Homer; nicht
leicht ein schöneres, ungesuchteres bietet die moderne Literatur, als die
herrliche Stelle in Göthe's Faust, wo die Folge der Consonanten und
Vocale genau zu beobachten ist:

Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,
Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste
Und Nachbarstämme quetschend niederstreift
Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert u. s. w.
§. 854.

Der große Gegensatz der Style macht im sprachlichen Ausdruck seine ganze
Stärke geltend. Der naturalistische und individualisirende Styl zeichnet durchaus
enger in's Einzelne, greift daher kühner in das Niedrige und Platte, zugleich
aber bricht das tiefere Geistesleben, das ihn hiezu berechtigt, unruhiger, auf-
geregter, traumartiger in Bildern und Figuren hervor.


Aſyndeton und Polyſyndeton z. B. drücken deutlich verſchiedenen Stimmungs-
rhythmus aus und umgekehrt kann von Klimax und Antiklimax in der Lehre
von der Poeſie nur inſofern ausdrücklich die Rede ſein, als ſich Steigerung
und Senkung in der Sprachform niederlegt. Reine Wort- oder Form-
figuren ſind nur beſtimmte grammatikaliſche Unregelmäßigkeiten, wie Syn-
kope, Apokope, Zeugma u. ſ. w., über die weiter nichts zu ſagen iſt, als
daß ſie in der Poeſie häufiger vorkommen werden, als in der Proſa, weil die-
ſelbe auch an dem rein techniſchen Sprachgeſetz ihre Freiheit geltend zu machen
liebt. — Zu dieſer zweiten Ordnung mag, wenn man ſie außer ihrem Zu-
ſammenhang im komiſchen Prozeſſe betrachtet (vergl. §. 201 ff.), auch die
Ironie (mit der Litotes) als Figur gezählt werden, denn man kann ſie als
eine Rückhaltung des Sprachfluſſes auffaſſen, der ſich wie hinter einer
Schleuſe ſpannt, um errathen zu laſſen, daß das Verborgene das Gegen-
theil des Sichtbaren iſt. — Bei der dritten Ordnung handelt es ſich von
den punctuellen Accenten, welche ſich auf den einzelnen Moment der Rede
werfen; hieher gehört die Betonung durch Contraſt, wie ſie in der Sprach-
form als Inverſion, Anaklaſe, Epanodos, Antitheſe erſcheint. Die letztere
bedeutet hier einen Widerſpruch zwiſchen Subject und Epitheton (z. B. der
arme Reiche), eine ſehr wirkſame, aber auch leicht zu mißbrauchende Form,
wie ſie denn in der Mariniſchen Jagd nach concetti einſt beſonders beliebt war.

2. Die Onomatopoeſie verhält ſich zu dem allgemeinen, ſtetigen Ein-
klang zwiſchen Tonfall und Inhalt, der in aller ächten Dichtung mit innerer
Nothwendigkeit herrſcht, wie ein vereinzeltes, beſonderes Spiel, den nach-
ahmenden Tonſpielereien der Muſik ähnlich und wie dieſe nur ſparſam
anzuwenden. Der ſauſende Diſkus des Odyſſeus und der rückwärts zu Thal
polternde Stein des Siſyphus ſind berühmte Beiſpiele aus Homer; nicht
leicht ein ſchöneres, ungeſuchteres bietet die moderne Literatur, als die
herrliche Stelle in Göthe’s Fauſt, wo die Folge der Conſonanten und
Vocale genau zu beobachten iſt:

Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,
Die Rieſenfichte ſtürzend Nachbaräſte
Und Nachbarſtämme quetſchend niederſtreift
Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert u. ſ. w.
§. 854.

Der große Gegenſatz der Style macht im ſprachlichen Ausdruck ſeine ganze
Stärke geltend. Der naturaliſtiſche und individualiſirende Styl zeichnet durchaus
enger in’s Einzelne, greift daher kühner in das Niedrige und Platte, zugleich
aber bricht das tiefere Geiſtesleben, das ihn hiezu berechtigt, unruhiger, auf-
geregter, traumartiger in Bildern und Figuren hervor.


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[1234/0098] Aſyndeton und Polyſyndeton z. B. drücken deutlich verſchiedenen Stimmungs- rhythmus aus und umgekehrt kann von Klimax und Antiklimax in der Lehre von der Poeſie nur inſofern ausdrücklich die Rede ſein, als ſich Steigerung und Senkung in der Sprachform niederlegt. Reine Wort- oder Form- figuren ſind nur beſtimmte grammatikaliſche Unregelmäßigkeiten, wie Syn- kope, Apokope, Zeugma u. ſ. w., über die weiter nichts zu ſagen iſt, als daß ſie in der Poeſie häufiger vorkommen werden, als in der Proſa, weil die- ſelbe auch an dem rein techniſchen Sprachgeſetz ihre Freiheit geltend zu machen liebt. — Zu dieſer zweiten Ordnung mag, wenn man ſie außer ihrem Zu- ſammenhang im komiſchen Prozeſſe betrachtet (vergl. §. 201 ff.), auch die Ironie (mit der Litotes) als Figur gezählt werden, denn man kann ſie als eine Rückhaltung des Sprachfluſſes auffaſſen, der ſich wie hinter einer Schleuſe ſpannt, um errathen zu laſſen, daß das Verborgene das Gegen- theil des Sichtbaren iſt. — Bei der dritten Ordnung handelt es ſich von den punctuellen Accenten, welche ſich auf den einzelnen Moment der Rede werfen; hieher gehört die Betonung durch Contraſt, wie ſie in der Sprach- form als Inverſion, Anaklaſe, Epanodos, Antitheſe erſcheint. Die letztere bedeutet hier einen Widerſpruch zwiſchen Subject und Epitheton (z. B. der arme Reiche), eine ſehr wirkſame, aber auch leicht zu mißbrauchende Form, wie ſie denn in der Mariniſchen Jagd nach concetti einſt beſonders beliebt war. 2. Die Onomatopoeſie verhält ſich zu dem allgemeinen, ſtetigen Ein- klang zwiſchen Tonfall und Inhalt, der in aller ächten Dichtung mit innerer Nothwendigkeit herrſcht, wie ein vereinzeltes, beſonderes Spiel, den nach- ahmenden Tonſpielereien der Muſik ähnlich und wie dieſe nur ſparſam anzuwenden. Der ſauſende Diſkus des Odyſſeus und der rückwärts zu Thal polternde Stein des Siſyphus ſind berühmte Beiſpiele aus Homer; nicht leicht ein ſchöneres, ungeſuchteres bietet die moderne Literatur, als die herrliche Stelle in Göthe’s Fauſt, wo die Folge der Conſonanten und Vocale genau zu beobachten iſt: Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt, Die Rieſenfichte ſtürzend Nachbaräſte Und Nachbarſtämme quetſchend niederſtreift Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert u. ſ. w. §. 854. Der große Gegenſatz der Style macht im ſprachlichen Ausdruck ſeine ganze Stärke geltend. Der naturaliſtiſche und individualiſirende Styl zeichnet durchaus enger in’s Einzelne, greift daher kühner in das Niedrige und Platte, zugleich aber bricht das tiefere Geiſtesleben, das ihn hiezu berechtigt, unruhiger, auf- geregter, traumartiger in Bildern und Figuren hervor.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/98>, abgerufen am 25.04.2024.