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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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umfaßt, weist uns doch mit breiterer Hand hinaus auf die unendliche
Perspective des unausmeßbaren Ganzen. Es handelt sich freilich in allem
Idealen nicht um das Extensive, sondern das Intensive, nicht um Quan-
tität, sondern Qualität, und jeder Künstler und Dichter hat "seinen Leser
in einen Mittelpunct zu stellen, von welchem nach allen Seiten hin Strahlen
in's Unendliche laufen" (W. v. Humboldt a. a. O. S. 30), allein die
innere Unendlichkeit entwickelt ihre Lebensfülle in der äußern, die Intension
in der Extension, die Qualität in der Quantität und je mehr mich der
Dichter wirklich zu sehen anleitet, um so mehr und voller leitet er mich an,
den ganzen Reichthum auch des nicht Gesehenen als Ausdehnung der Sub-
stanz zu ahnen. Daher ist das ächt Epische von einem Gefühle begleitet,
als höre man einen breiten, unaussprechlich mächtigen Strom brausen, als
rausche die ganze Geschichte in gewaltigen Wogen an uns vorüber. Darin
liegt zugleich das volle Gefühl des Erhabenen der Zeit (vergl. §. 93. 94);
man sieht die Geschlechter kommen und gehen, wachsen und welken. Ein
tief und ächt episches Gefühl knüpft sich an den uralten Birnbaum in
Göthe's Hermann und Dorothea, der, wie heute, die Schnitter, die Hirten
und Heerden schon so viele Generationen hindurch in seinem Schatten hat
ruhen gesehen und noch sehen wird. Der Dichter hat aber zu zeigen, wie
im Mittelpuncte dieses weit ausgebreiteten Daseins die sittliche Welt steht,
in der ein ewiges Gesetz der Gerechtigkeit sich vollzieht, und so ist jenes
Gefühl eines unendlichen Flusses in seinem tieferen Gehalte Schicksalsgefühl.
Es scheint weit mehr vom Drama, als vom Epos zu gelten, daß es durch
und durch von Schicksalsgefühl getränkt sei. Allein dann wird dieser Be-
griff in dem strafferen Sinn eines engen Zusammenhangs zwischen der
freien That und ihren Folgen genommen; im Epos dagegen herrscht das
Schicksal als der Factor des unendlichen Complexes des Weltverlaufs, worin
die Acte des Menschenwillens nur einzelne Wellen sind, worin der sittliche
Zustand, der sich als Summe der Zusammenwirkung unbestimmt vieler In-
dividuen ergibt, sich ununterschieden mit allem dem verflicht, was natürliche
Ursachen, äußere Bedingungen jeder Art hinzubringen, und worin der Begriff
des Zusammenhangs zwischen Schuld und Leiden sich mehr in das Weite
und Lose verlaufen muß. Es ist allerdings angemessener, dieß Verhäng-
niß
zu nennen: "im Epos wohnt das Verhängniß, -- da der Charakter
hier nur dem Ganzen dient und da kein Lebens- sondern ein Weltverlauf
erscheint, so verliert sich sein Schicksal in das Allgemeine" (J. P. Fr. Richter
a. a. O. S. 63). Dieß führt auf den breiten Spielraum des Zufälligen
im Epos. Der Begriff eines Complexes, einer Causalitäts-Verkettung, den
wir vom Epos aufgestellt haben, widerspricht demselben nicht; das Zufällige
ist immer motivirt, nur der gegenwärtige Zusammenhang zeigt nicht seine
Motivirung. Dem Epos genügt dieß; der zuständliche Mensch, der Sohn

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umfaßt, weist uns doch mit breiterer Hand hinaus auf die unendliche
Perſpective des unausmeßbaren Ganzen. Es handelt ſich freilich in allem
Idealen nicht um das Extenſive, ſondern das Intenſive, nicht um Quan-
tität, ſondern Qualität, und jeder Künſtler und Dichter hat „ſeinen Leſer
in einen Mittelpunct zu ſtellen, von welchem nach allen Seiten hin Strahlen
in’s Unendliche laufen“ (W. v. Humboldt a. a. O. S. 30), allein die
innere Unendlichkeit entwickelt ihre Lebensfülle in der äußern, die Intenſion
in der Extenſion, die Qualität in der Quantität und je mehr mich der
Dichter wirklich zu ſehen anleitet, um ſo mehr und voller leitet er mich an,
den ganzen Reichthum auch des nicht Geſehenen als Ausdehnung der Sub-
ſtanz zu ahnen. Daher iſt das ächt Epiſche von einem Gefühle begleitet,
als höre man einen breiten, unausſprechlich mächtigen Strom brauſen, als
rauſche die ganze Geſchichte in gewaltigen Wogen an uns vorüber. Darin
liegt zugleich das volle Gefühl des Erhabenen der Zeit (vergl. §. 93. 94);
man ſieht die Geſchlechter kommen und gehen, wachſen und welken. Ein
tief und ächt epiſches Gefühl knüpft ſich an den uralten Birnbaum in
Göthe’s Hermann und Dorothea, der, wie heute, die Schnitter, die Hirten
und Heerden ſchon ſo viele Generationen hindurch in ſeinem Schatten hat
ruhen geſehen und noch ſehen wird. Der Dichter hat aber zu zeigen, wie
im Mittelpuncte dieſes weit ausgebreiteten Daſeins die ſittliche Welt ſteht,
in der ein ewiges Geſetz der Gerechtigkeit ſich vollzieht, und ſo iſt jenes
Gefühl eines unendlichen Fluſſes in ſeinem tieferen Gehalte Schickſalsgefühl.
Es ſcheint weit mehr vom Drama, als vom Epos zu gelten, daß es durch
und durch von Schickſalsgefühl getränkt ſei. Allein dann wird dieſer Be-
griff in dem ſtrafferen Sinn eines engen Zuſammenhangs zwiſchen der
freien That und ihren Folgen genommen; im Epos dagegen herrſcht das
Schickſal als der Factor des unendlichen Complexes des Weltverlaufs, worin
die Acte des Menſchenwillens nur einzelne Wellen ſind, worin der ſittliche
Zuſtand, der ſich als Summe der Zuſammenwirkung unbeſtimmt vieler In-
dividuen ergibt, ſich ununterſchieden mit allem dem verflicht, was natürliche
Urſachen, äußere Bedingungen jeder Art hinzubringen, und worin der Begriff
des Zuſammenhangs zwiſchen Schuld und Leiden ſich mehr in das Weite
und Loſe verlaufen muß. Es iſt allerdings angemeſſener, dieß Verhäng-
niß
zu nennen: „im Epos wohnt das Verhängniß, — da der Charakter
hier nur dem Ganzen dient und da kein Lebens- ſondern ein Weltverlauf
erſcheint, ſo verliert ſich ſein Schickſal in das Allgemeine“ (J. P. Fr. Richter
a. a. O. S. 63). Dieß führt auf den breiten Spielraum des Zufälligen
im Epos. Der Begriff eines Complexes, einer Cauſalitäts-Verkettung, den
wir vom Epos aufgeſtellt haben, widerſpricht demſelben nicht; das Zufällige
iſt immer motivirt, nur der gegenwärtige Zuſammenhang zeigt nicht ſeine
Motivirung. Dem Epos genügt dieß; der zuſtändliche Menſch, der Sohn

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[1273/0137] umfaßt, weist uns doch mit breiterer Hand hinaus auf die unendliche Perſpective des unausmeßbaren Ganzen. Es handelt ſich freilich in allem Idealen nicht um das Extenſive, ſondern das Intenſive, nicht um Quan- tität, ſondern Qualität, und jeder Künſtler und Dichter hat „ſeinen Leſer in einen Mittelpunct zu ſtellen, von welchem nach allen Seiten hin Strahlen in’s Unendliche laufen“ (W. v. Humboldt a. a. O. S. 30), allein die innere Unendlichkeit entwickelt ihre Lebensfülle in der äußern, die Intenſion in der Extenſion, die Qualität in der Quantität und je mehr mich der Dichter wirklich zu ſehen anleitet, um ſo mehr und voller leitet er mich an, den ganzen Reichthum auch des nicht Geſehenen als Ausdehnung der Sub- ſtanz zu ahnen. Daher iſt das ächt Epiſche von einem Gefühle begleitet, als höre man einen breiten, unausſprechlich mächtigen Strom brauſen, als rauſche die ganze Geſchichte in gewaltigen Wogen an uns vorüber. Darin liegt zugleich das volle Gefühl des Erhabenen der Zeit (vergl. §. 93. 94); man ſieht die Geſchlechter kommen und gehen, wachſen und welken. Ein tief und ächt epiſches Gefühl knüpft ſich an den uralten Birnbaum in Göthe’s Hermann und Dorothea, der, wie heute, die Schnitter, die Hirten und Heerden ſchon ſo viele Generationen hindurch in ſeinem Schatten hat ruhen geſehen und noch ſehen wird. Der Dichter hat aber zu zeigen, wie im Mittelpuncte dieſes weit ausgebreiteten Daſeins die ſittliche Welt ſteht, in der ein ewiges Geſetz der Gerechtigkeit ſich vollzieht, und ſo iſt jenes Gefühl eines unendlichen Fluſſes in ſeinem tieferen Gehalte Schickſalsgefühl. Es ſcheint weit mehr vom Drama, als vom Epos zu gelten, daß es durch und durch von Schickſalsgefühl getränkt ſei. Allein dann wird dieſer Be- griff in dem ſtrafferen Sinn eines engen Zuſammenhangs zwiſchen der freien That und ihren Folgen genommen; im Epos dagegen herrſcht das Schickſal als der Factor des unendlichen Complexes des Weltverlaufs, worin die Acte des Menſchenwillens nur einzelne Wellen ſind, worin der ſittliche Zuſtand, der ſich als Summe der Zuſammenwirkung unbeſtimmt vieler In- dividuen ergibt, ſich ununterſchieden mit allem dem verflicht, was natürliche Urſachen, äußere Bedingungen jeder Art hinzubringen, und worin der Begriff des Zuſammenhangs zwiſchen Schuld und Leiden ſich mehr in das Weite und Loſe verlaufen muß. Es iſt allerdings angemeſſener, dieß Verhäng- niß zu nennen: „im Epos wohnt das Verhängniß, — da der Charakter hier nur dem Ganzen dient und da kein Lebens- ſondern ein Weltverlauf erſcheint, ſo verliert ſich ſein Schickſal in das Allgemeine“ (J. P. Fr. Richter a. a. O. S. 63). Dieß führt auf den breiten Spielraum des Zufälligen im Epos. Der Begriff eines Complexes, einer Cauſalitäts-Verkettung, den wir vom Epos aufgeſtellt haben, widerſpricht demſelben nicht; das Zufällige iſt immer motivirt, nur der gegenwärtige Zuſammenhang zeigt nicht ſeine Motivirung. Dem Epos genügt dieß; der zuſtändliche Menſch, der Sohn 82*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/137>, abgerufen am 25.04.2024.