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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Sigfried's frühere Verlobung mit Brunhilden), das Eintragen geschichtli-
cher Personen und Verhältnisse, die wesentlich umgebildet sind und doch
nicht genug, um uns den Anreiz kritischer Vergleichung der Geschichte zu
ersparen, der uns peinlich den poetischen Genuß stört, endlich und nament-
lich die Einflechtung heterogener, christlich ritterlicher Culturformen, die den
breitschultrigen Recken wie ein enger, zierlicher Rock viel zu knapp sitzen.
Dieß von der Seite des Inhalts. Vergl. hiezu §. 355, 3. zu dem ganzen
Bilde §. 459. Was die Form betrifft, so erkennen wir eine Volkspoesie,
die nicht auf dem Puncte des Uebergangs zu einer so schönen Kunstpoesie
steht, wie die Homerische. Sie hat eine alte Schönheit (Hildebrandslied)
verloren und eine neue, künstlerisch freiere nicht gewonnen. Man sieht,
der Dichter trägt eine Anschauung in sich, aber er kann sie nicht heraus-
geben, nicht entfalten. In seiner Hand wird der zierliche Rock selbst wieder
zur rohen Sackleinwand; es treten Stellen gediegener Einheit gefühlten
Inhalts mit körnigem Wort und Bild hervor, einigemale wird er selbst
beredt, aber weit häufiger ist er Wort-, Reim- und Bilder-arm bis zur
äußersten Dürftigkeit, breit und langweilig bis zur Maaßlosigkeit. Er ist
naiv im engen, beschränkten Sinne des Worts. Die Nibelungenstrophe
war es nicht, die einer entbundneren Kunst die Fessel angelegt hätte;
sie hat heroische Bewegung, läßt durch das Freigeben der Senkungen dem
Wechsel des Gefühlsganges Raum und gibt im Reim einer gesteigerten
subjectiven Empfindung ihren Klang, der noch keineswegs zu lyrisch ist.
Dem deutschen Geist hätte müssen ein Styl möglich sein, der von der
Basis des Idealen, Monumentalen, die den großen Intentionen durchaus
nicht abzusprechen ist, hinübergestreift hätte in das Gebiet der charakteristi-
schen, der individualisirenden Behandlung, wie sie jenen mehr nach innen
gedrängten Naturen mit ihrer härteren Eigenheit entspräche; ein solcher
springt auch in einzelnen scharfen, gelegentlich derb humoristischen Zügen
an, aber er bleibt unentwickelt; die Dichtung der Nation gieng vorerst
andere Wege.

Wir erwähnen hier noch die Romanzen vom Cid. Sie liegen bereits
außerhalb der Linie des heroischen Epos, der Recke ist Ritter geworden,
der Kampf geht gegen die Feinde des Christenthums, die Sarazenen.
Dabei bewahren sie wahrhaft große und rührende Züge uralter Tüchtigkeit,
Einfachheit, schlichter Häuslichkeit, welche allerdings dem ächt epischen Ele-
ment angehören; wir haben sie aber im §. nicht genannt, weil sie nur
einen losen Kranz aus ungleichzeitigen Blumen bilden, zu keinem geschlos-
senen Ganzen zusammengewachsen sind.


Sigfried’s frühere Verlobung mit Brunhilden), das Eintragen geſchichtli-
cher Perſonen und Verhältniſſe, die weſentlich umgebildet ſind und doch
nicht genug, um uns den Anreiz kritiſcher Vergleichung der Geſchichte zu
erſparen, der uns peinlich den poetiſchen Genuß ſtört, endlich und nament-
lich die Einflechtung heterogener, chriſtlich ritterlicher Culturformen, die den
breitſchultrigen Recken wie ein enger, zierlicher Rock viel zu knapp ſitzen.
Dieß von der Seite des Inhalts. Vergl. hiezu §. 355, 3. zu dem ganzen
Bilde §. 459. Was die Form betrifft, ſo erkennen wir eine Volkspoeſie,
die nicht auf dem Puncte des Uebergangs zu einer ſo ſchönen Kunſtpoeſie
ſteht, wie die Homeriſche. Sie hat eine alte Schönheit (Hildebrandslied)
verloren und eine neue, künſtleriſch freiere nicht gewonnen. Man ſieht,
der Dichter trägt eine Anſchauung in ſich, aber er kann ſie nicht heraus-
geben, nicht entfalten. In ſeiner Hand wird der zierliche Rock ſelbſt wieder
zur rohen Sackleinwand; es treten Stellen gediegener Einheit gefühlten
Inhalts mit körnigem Wort und Bild hervor, einigemale wird er ſelbſt
beredt, aber weit häufiger iſt er Wort-, Reim- und Bilder-arm bis zur
äußerſten Dürftigkeit, breit und langweilig bis zur Maaßloſigkeit. Er iſt
naiv im engen, beſchränkten Sinne des Worts. Die Nibelungenſtrophe
war es nicht, die einer entbundneren Kunſt die Feſſel angelegt hätte;
ſie hat heroiſche Bewegung, läßt durch das Freigeben der Senkungen dem
Wechſel des Gefühlsganges Raum und gibt im Reim einer geſteigerten
ſubjectiven Empfindung ihren Klang, der noch keineswegs zu lyriſch iſt.
Dem deutſchen Geiſt hätte müſſen ein Styl möglich ſein, der von der
Baſis des Idealen, Monumentalen, die den großen Intentionen durchaus
nicht abzuſprechen iſt, hinübergeſtreift hätte in das Gebiet der charakteriſti-
ſchen, der individualiſirenden Behandlung, wie ſie jenen mehr nach innen
gedrängten Naturen mit ihrer härteren Eigenheit entſpräche; ein ſolcher
ſpringt auch in einzelnen ſcharfen, gelegentlich derb humoriſtiſchen Zügen
an, aber er bleibt unentwickelt; die Dichtung der Nation gieng vorerſt
andere Wege.

Wir erwähnen hier noch die Romanzen vom Cid. Sie liegen bereits
außerhalb der Linie des heroiſchen Epos, der Recke iſt Ritter geworden,
der Kampf geht gegen die Feinde des Chriſtenthums, die Sarazenen.
Dabei bewahren ſie wahrhaft große und rührende Züge uralter Tüchtigkeit,
Einfachheit, ſchlichter Häuslichkeit, welche allerdings dem ächt epiſchen Ele-
ment angehören; wir haben ſie aber im §. nicht genannt, weil ſie nur
einen loſen Kranz aus ungleichzeitigen Blumen bilden, zu keinem geſchloſ-
ſenen Ganzen zuſammengewachſen ſind.


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[1295/0159] Sigfried’s frühere Verlobung mit Brunhilden), das Eintragen geſchichtli- cher Perſonen und Verhältniſſe, die weſentlich umgebildet ſind und doch nicht genug, um uns den Anreiz kritiſcher Vergleichung der Geſchichte zu erſparen, der uns peinlich den poetiſchen Genuß ſtört, endlich und nament- lich die Einflechtung heterogener, chriſtlich ritterlicher Culturformen, die den breitſchultrigen Recken wie ein enger, zierlicher Rock viel zu knapp ſitzen. Dieß von der Seite des Inhalts. Vergl. hiezu §. 355, 3. zu dem ganzen Bilde §. 459. Was die Form betrifft, ſo erkennen wir eine Volkspoeſie, die nicht auf dem Puncte des Uebergangs zu einer ſo ſchönen Kunſtpoeſie ſteht, wie die Homeriſche. Sie hat eine alte Schönheit (Hildebrandslied) verloren und eine neue, künſtleriſch freiere nicht gewonnen. Man ſieht, der Dichter trägt eine Anſchauung in ſich, aber er kann ſie nicht heraus- geben, nicht entfalten. In ſeiner Hand wird der zierliche Rock ſelbſt wieder zur rohen Sackleinwand; es treten Stellen gediegener Einheit gefühlten Inhalts mit körnigem Wort und Bild hervor, einigemale wird er ſelbſt beredt, aber weit häufiger iſt er Wort-, Reim- und Bilder-arm bis zur äußerſten Dürftigkeit, breit und langweilig bis zur Maaßloſigkeit. Er iſt naiv im engen, beſchränkten Sinne des Worts. Die Nibelungenſtrophe war es nicht, die einer entbundneren Kunſt die Feſſel angelegt hätte; ſie hat heroiſche Bewegung, läßt durch das Freigeben der Senkungen dem Wechſel des Gefühlsganges Raum und gibt im Reim einer geſteigerten ſubjectiven Empfindung ihren Klang, der noch keineswegs zu lyriſch iſt. Dem deutſchen Geiſt hätte müſſen ein Styl möglich ſein, der von der Baſis des Idealen, Monumentalen, die den großen Intentionen durchaus nicht abzuſprechen iſt, hinübergeſtreift hätte in das Gebiet der charakteriſti- ſchen, der individualiſirenden Behandlung, wie ſie jenen mehr nach innen gedrängten Naturen mit ihrer härteren Eigenheit entſpräche; ein ſolcher ſpringt auch in einzelnen ſcharfen, gelegentlich derb humoriſtiſchen Zügen an, aber er bleibt unentwickelt; die Dichtung der Nation gieng vorerſt andere Wege. Wir erwähnen hier noch die Romanzen vom Cid. Sie liegen bereits außerhalb der Linie des heroiſchen Epos, der Recke iſt Ritter geworden, der Kampf geht gegen die Feinde des Chriſtenthums, die Sarazenen. Dabei bewahren ſie wahrhaft große und rührende Züge uralter Tüchtigkeit, Einfachheit, ſchlichter Häuslichkeit, welche allerdings dem ächt epiſchen Ele- ment angehören; wir haben ſie aber im §. nicht genannt, weil ſie nur einen loſen Kranz aus ungleichzeitigen Blumen bilden, zu keinem geſchloſ- ſenen Ganzen zuſammengewachſen ſind.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/159>, abgerufen am 20.04.2024.