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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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die, von unendlich vielen Individuen in Wechsel-Ergänzung erarbeitet, über
jedem einzelnen Individuum stehen, gründlich durchkosten muß, um Mann
zu werden. Das Hauptgewicht fällt aber natürlich stets auf das innere
Leben und wenn demnach der Roman im Unterschiede vom Epos immer
vor Allem Seelengemälde ist, so wird dadurch das epische Gesetz, daß der
Dichter uns überall nach außen, in die Erscheinung führen soll, in seiner
Geltung zwar beschränkt, aber keineswegs aufgehoben; ja das Licht des
tieferen Reflexes im Seelenleben macht die Außendinge nur um so bedeut-
samer, beleuchtet die ganze Erscheinungswelt, namentlich auch die äußere
Natur, um so gründlicher, dringt heimlicher in die feinsten Falten. Hier
stehen wir nun am Hauptpuncte. Eine Welt von Zügen, die das plastisch
ideale Gesetz des Epos ausscheidet, nimmt das malerisch spezialisirende des
Romans wie mit mikroskopischem Blick auf, weil jene Idealität der Zustände,
welche dieß nicht ertragen könnte, vorneherein gar nicht vorhanden ist, weil
hier die Idealität vielmehr aus der Prosa der harten Naturwahrheit eben
durch die Rückführung auf ein vertieftes inneres Leben hergestellt wird.

2. Man hat den Roman ein verwildertes Epos, eine Zwittergattung
genannt. Wir halten zunächst unsern in §. 872 an die Spitze gestellten
Satz fest, daß er eine wahrere Erscheinung ist, als alle Heldengedichte nach
Homer, die der Kunstpoesie entsprossen sind; denn er will gar kein Epos
sein, sondern stellt sich diesem als Product einer ganz andern Stylrichtung
auf klar getrenntem Gipfel gegenüber. Aber dieser Gipfel ist viel niedriger,
als der, worauf das Epos seine Stelle hat. Warum? Weil der Styl, der
das Recht des tieferen Griffes in die härteren Bedingungen und Züge der
Wirklichkeit aus der vertieften Innerlichkeit der Weltauffassung schöpft, seine
wahre Heimath in einer andern Dicht-Art haben muß, in derjenigen nämlich,
welche die Welt als eine von innen, aus dem Willen bestimmte darstellt,
also der dramatischen. Er ist kein Epos mehr und doch kein Drama, er mag
in diesem Sinn eine Zwittergattung heißen; ein verwildertes Epos aber
kann man ihn nicht nennen, denn er hat die Trümmer des Epos, aus
denen er allerdings entstanden ist, in etwas spezifisch Anderes verwandelt.
Dagegen drängen sich schwere Bedenken auf, wenn man seine Stellung
ganz allgemein vom Standpuncte der reinen, selbständigen Kunstschönheit
betrachtet: hier bricht über eine kaum merkliche Schwelle der Charakter des
Zwitterhaften in anderer, weiterer Bedeutung herein: der Roman hat zu
viel Prosa des Lebens zugestanden, um einen sichern Halt für ihre Ideali-
sirung zu haben; daher schwankt er so leicht nach zwei Extremen hin aus
dem Gebiete des rein Aesthetischen weg: er wirkt sinnlich stoffartig, sei es
in der gemeinen Bedeutung des Worts oder überhaupt im Sinne patholo-
gischer Aufregung, und sinkt zur breiten, leichten oder wilden Unterhaltungs-
literatur herunter; oder er wirkt didaktisch, tendenziös, nimmt jeden Streit

die, von unendlich vielen Individuen in Wechſel-Ergänzung erarbeitet, über
jedem einzelnen Individuum ſtehen, gründlich durchkoſten muß, um Mann
zu werden. Das Hauptgewicht fällt aber natürlich ſtets auf das innere
Leben und wenn demnach der Roman im Unterſchiede vom Epos immer
vor Allem Seelengemälde iſt, ſo wird dadurch das epiſche Geſetz, daß der
Dichter uns überall nach außen, in die Erſcheinung führen ſoll, in ſeiner
Geltung zwar beſchränkt, aber keineswegs aufgehoben; ja das Licht des
tieferen Reflexes im Seelenleben macht die Außendinge nur um ſo bedeut-
ſamer, beleuchtet die ganze Erſcheinungswelt, namentlich auch die äußere
Natur, um ſo gründlicher, dringt heimlicher in die feinſten Falten. Hier
ſtehen wir nun am Hauptpuncte. Eine Welt von Zügen, die das plaſtiſch
ideale Geſetz des Epos ausſcheidet, nimmt das maleriſch ſpezialiſirende des
Romans wie mit mikroſkopiſchem Blick auf, weil jene Idealität der Zuſtände,
welche dieß nicht ertragen könnte, vorneherein gar nicht vorhanden iſt, weil
hier die Idealität vielmehr aus der Proſa der harten Naturwahrheit eben
durch die Rückführung auf ein vertieftes inneres Leben hergeſtellt wird.

2. Man hat den Roman ein verwildertes Epos, eine Zwittergattung
genannt. Wir halten zunächſt unſern in §. 872 an die Spitze geſtellten
Satz feſt, daß er eine wahrere Erſcheinung iſt, als alle Heldengedichte nach
Homer, die der Kunſtpoeſie entſproſſen ſind; denn er will gar kein Epos
ſein, ſondern ſtellt ſich dieſem als Product einer ganz andern Stylrichtung
auf klar getrenntem Gipfel gegenüber. Aber dieſer Gipfel iſt viel niedriger,
als der, worauf das Epos ſeine Stelle hat. Warum? Weil der Styl, der
das Recht des tieferen Griffes in die härteren Bedingungen und Züge der
Wirklichkeit aus der vertieften Innerlichkeit der Weltauffaſſung ſchöpft, ſeine
wahre Heimath in einer andern Dicht-Art haben muß, in derjenigen nämlich,
welche die Welt als eine von innen, aus dem Willen beſtimmte darſtellt,
alſo der dramatiſchen. Er iſt kein Epos mehr und doch kein Drama, er mag
in dieſem Sinn eine Zwittergattung heißen; ein verwildertes Epos aber
kann man ihn nicht nennen, denn er hat die Trümmer des Epos, aus
denen er allerdings entſtanden iſt, in etwas ſpezifiſch Anderes verwandelt.
Dagegen drängen ſich ſchwere Bedenken auf, wenn man ſeine Stellung
ganz allgemein vom Standpuncte der reinen, ſelbſtändigen Kunſtſchönheit
betrachtet: hier bricht über eine kaum merkliche Schwelle der Charakter des
Zwitterhaften in anderer, weiterer Bedeutung herein: der Roman hat zu
viel Proſa des Lebens zugeſtanden, um einen ſichern Halt für ihre Ideali-
ſirung zu haben; daher ſchwankt er ſo leicht nach zwei Extremen hin aus
dem Gebiete des rein Aeſthetiſchen weg: er wirkt ſinnlich ſtoffartig, ſei es
in der gemeinen Bedeutung des Worts oder überhaupt im Sinne patholo-
giſcher Aufregung, und ſinkt zur breiten, leichten oder wilden Unterhaltungs-
literatur herunter; oder er wirkt didaktiſch, tendenziös, nimmt jeden Streit

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[1309/0173] die, von unendlich vielen Individuen in Wechſel-Ergänzung erarbeitet, über jedem einzelnen Individuum ſtehen, gründlich durchkoſten muß, um Mann zu werden. Das Hauptgewicht fällt aber natürlich ſtets auf das innere Leben und wenn demnach der Roman im Unterſchiede vom Epos immer vor Allem Seelengemälde iſt, ſo wird dadurch das epiſche Geſetz, daß der Dichter uns überall nach außen, in die Erſcheinung führen ſoll, in ſeiner Geltung zwar beſchränkt, aber keineswegs aufgehoben; ja das Licht des tieferen Reflexes im Seelenleben macht die Außendinge nur um ſo bedeut- ſamer, beleuchtet die ganze Erſcheinungswelt, namentlich auch die äußere Natur, um ſo gründlicher, dringt heimlicher in die feinſten Falten. Hier ſtehen wir nun am Hauptpuncte. Eine Welt von Zügen, die das plaſtiſch ideale Geſetz des Epos ausſcheidet, nimmt das maleriſch ſpezialiſirende des Romans wie mit mikroſkopiſchem Blick auf, weil jene Idealität der Zuſtände, welche dieß nicht ertragen könnte, vorneherein gar nicht vorhanden iſt, weil hier die Idealität vielmehr aus der Proſa der harten Naturwahrheit eben durch die Rückführung auf ein vertieftes inneres Leben hergeſtellt wird. 2. Man hat den Roman ein verwildertes Epos, eine Zwittergattung genannt. Wir halten zunächſt unſern in §. 872 an die Spitze geſtellten Satz feſt, daß er eine wahrere Erſcheinung iſt, als alle Heldengedichte nach Homer, die der Kunſtpoeſie entſproſſen ſind; denn er will gar kein Epos ſein, ſondern ſtellt ſich dieſem als Product einer ganz andern Stylrichtung auf klar getrenntem Gipfel gegenüber. Aber dieſer Gipfel iſt viel niedriger, als der, worauf das Epos ſeine Stelle hat. Warum? Weil der Styl, der das Recht des tieferen Griffes in die härteren Bedingungen und Züge der Wirklichkeit aus der vertieften Innerlichkeit der Weltauffaſſung ſchöpft, ſeine wahre Heimath in einer andern Dicht-Art haben muß, in derjenigen nämlich, welche die Welt als eine von innen, aus dem Willen beſtimmte darſtellt, alſo der dramatiſchen. Er iſt kein Epos mehr und doch kein Drama, er mag in dieſem Sinn eine Zwittergattung heißen; ein verwildertes Epos aber kann man ihn nicht nennen, denn er hat die Trümmer des Epos, aus denen er allerdings entſtanden iſt, in etwas ſpezifiſch Anderes verwandelt. Dagegen drängen ſich ſchwere Bedenken auf, wenn man ſeine Stellung ganz allgemein vom Standpuncte der reinen, ſelbſtändigen Kunſtſchönheit betrachtet: hier bricht über eine kaum merkliche Schwelle der Charakter des Zwitterhaften in anderer, weiterer Bedeutung herein: der Roman hat zu viel Proſa des Lebens zugeſtanden, um einen ſichern Halt für ihre Ideali- ſirung zu haben; daher ſchwankt er ſo leicht nach zwei Extremen hin aus dem Gebiete des rein Aeſthetiſchen weg: er wirkt ſinnlich ſtoffartig, ſei es in der gemeinen Bedeutung des Worts oder überhaupt im Sinne patholo- giſcher Aufregung, und ſinkt zur breiten, leichten oder wilden Unterhaltungs- literatur herunter; oder er wirkt didaktiſch, tendenziös, nimmt jeden Streit

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/173>, abgerufen am 19.04.2024.