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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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2.velle zur Seite. Das Volksthümliche hat sich vorzüglich in diese Form gelegt
und als realistische Idylle die Dorfgeschichte eingeführt. Einzig in ihrer Art
steht aber eine andere Gestalt der modernen Idylle: der ideale Styl tritt
in den charakteristischen über und steigert das bescheidene Bild
des Landlebens zur monumentalen Höhe des Epos
.

1. Die Novelle verhält sich zum Romane wie ein Strahl zu einer
Lichtmasse. Sie gibt nicht das umfassende Bild der Weltzustände, aber
einen Ausschnitt daraus, der mit intensiver, momentaner Stärke auf das
größere Ganze als Perspective hinausweist, nicht die vollständige Entwick-
lung einer Persönlichkeit, aber ein Stück aus einem Menschenleben, das
eine Spannung, eine Krise hat und uns durch eine Gemüths- und Schick-
salswendung mit scharfem Accente zeigt, was Menschenleben überhaupt ist.
Man hat sie einfach und richtig als eine Situation im Unterschied von
der Entwicklung durch eine Reihe von Situationen im Romane bezeichnet.
Die Novelle hat dem Romane den Boden bereitet, das Erfahrungsbild
der Welt erobert; das Mittelalter kannte Mensch und Welt nicht, träumte
überall von Exemtionen, Bocaccio plauderte das Geheimniß aus, daß
Menschen Menschen, "sterbliche Menschen" sind. Dieselbe Bedeutung hat
die große Beliebtheit des Schwankes, wie er im sechszehnten Jahrhundert
in Deutschland herrscht. Diese kleinen Formen sind zum Theil bloße Anek-
doten. Die Anekdote ist mit kurzer Spannung und Lösung zufrieden ohne
das Resultat eines fruchtbaren, inhaltvollen Blickes in die Wahrheit des
Menschenlebens, daher meist komisch; die Novelle dagegen bewegt sich auch
im tragischen Gebiet, und zwar mehr, als der Roman. Es liegt dieß in
ihrer strafferen Natur; wer Interessantes kurz erzählen will, muß das
Retardirende schneller niederwerfen und auf die Katastrophe zueilen, wo
sich aber diese acuter hervordrängt, da ist auch die schärfere Schneide des
Schicksals, wie die Pritsche des lächerlichen Zufalls, im Zuge des Aus-
holens. Es lag der modernen Zeit sehr nahe, den Inhalt der Novelle
als Thema zu behandeln, d. h. unsere Conversation und Debatte so in sie
zu verlegen, daß eine Lebensfrage, ein Kampf geistiger Richtungen, dunkle
Erscheinungen des Seelenlebens und dergl. vorherrschend gesprächsweise er-
örtert werden, während in den persönlichen Schicksalen zugleich die factische
Antwort erfolgt. Die Form ist bedenklich, denn es liegt nur zu nahe, die
zweite Seite, welche natürlich den wesentlichen Körper des Ganzen bilden
müßte, zur Nebensache zu machen und so die Idee didaktisch, statt poetisch
und zwar mit dem besondern Geruche des Salons, der Theegesellschaft
herauszustellen, wie wir in den meisten Novellen Tieck's sehen. Ein Anderes
ist es, wenn eine harmlose Gesellschaft sich Novellen erzählt, wie bei
Bocaccio, wo denn schließlich allerdings auch die Erzählenden selbst eine

2.velle zur Seite. Das Volksthümliche hat ſich vorzüglich in dieſe Form gelegt
und als realiſtiſche Idylle die Dorfgeſchichte eingeführt. Einzig in ihrer Art
ſteht aber eine andere Geſtalt der modernen Idylle: der ideale Styl tritt
in den charakteriſtiſchen über und ſteigert das beſcheidene Bild
des Landlebens zur monumentalen Höhe des Epos
.

1. Die Novelle verhält ſich zum Romane wie ein Strahl zu einer
Lichtmaſſe. Sie gibt nicht das umfaſſende Bild der Weltzuſtände, aber
einen Ausſchnitt daraus, der mit intenſiver, momentaner Stärke auf das
größere Ganze als Perſpective hinausweist, nicht die vollſtändige Entwick-
lung einer Perſönlichkeit, aber ein Stück aus einem Menſchenleben, das
eine Spannung, eine Kriſe hat und uns durch eine Gemüths- und Schick-
ſalswendung mit ſcharfem Accente zeigt, was Menſchenleben überhaupt iſt.
Man hat ſie einfach und richtig als eine Situation im Unterſchied von
der Entwicklung durch eine Reihe von Situationen im Romane bezeichnet.
Die Novelle hat dem Romane den Boden bereitet, das Erfahrungsbild
der Welt erobert; das Mittelalter kannte Menſch und Welt nicht, träumte
überall von Exemtionen, Bocaccio plauderte das Geheimniß aus, daß
Menſchen Menſchen, „ſterbliche Menſchen“ ſind. Dieſelbe Bedeutung hat
die große Beliebtheit des Schwankes, wie er im ſechszehnten Jahrhundert
in Deutſchland herrſcht. Dieſe kleinen Formen ſind zum Theil bloße Anek-
doten. Die Anekdote iſt mit kurzer Spannung und Löſung zufrieden ohne
das Reſultat eines fruchtbaren, inhaltvollen Blickes in die Wahrheit des
Menſchenlebens, daher meiſt komiſch; die Novelle dagegen bewegt ſich auch
im tragiſchen Gebiet, und zwar mehr, als der Roman. Es liegt dieß in
ihrer ſtrafferen Natur; wer Intereſſantes kurz erzählen will, muß das
Retardirende ſchneller niederwerfen und auf die Kataſtrophe zueilen, wo
ſich aber dieſe acuter hervordrängt, da iſt auch die ſchärfere Schneide des
Schickſals, wie die Pritſche des lächerlichen Zufalls, im Zuge des Aus-
holens. Es lag der modernen Zeit ſehr nahe, den Inhalt der Novelle
als Thema zu behandeln, d. h. unſere Converſation und Debatte ſo in ſie
zu verlegen, daß eine Lebensfrage, ein Kampf geiſtiger Richtungen, dunkle
Erſcheinungen des Seelenlebens und dergl. vorherrſchend geſprächsweiſe er-
örtert werden, während in den perſönlichen Schickſalen zugleich die factiſche
Antwort erfolgt. Die Form iſt bedenklich, denn es liegt nur zu nahe, die
zweite Seite, welche natürlich den weſentlichen Körper des Ganzen bilden
müßte, zur Nebenſache zu machen und ſo die Idee didaktiſch, ſtatt poetiſch
und zwar mit dem beſondern Geruche des Salons, der Theegeſellſchaft
herauszuſtellen, wie wir in den meiſten Novellen Tieck’s ſehen. Ein Anderes
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Bocaccio, wo denn ſchließlich allerdings auch die Erzählenden ſelbſt eine

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[1318/0182] velle zur Seite. Das Volksthümliche hat ſich vorzüglich in dieſe Form gelegt und als realiſtiſche Idylle die Dorfgeſchichte eingeführt. Einzig in ihrer Art ſteht aber eine andere Geſtalt der modernen Idylle: der ideale Styl tritt in den charakteriſtiſchen über und ſteigert das beſcheidene Bild des Landlebens zur monumentalen Höhe des Epos. 1. Die Novelle verhält ſich zum Romane wie ein Strahl zu einer Lichtmaſſe. Sie gibt nicht das umfaſſende Bild der Weltzuſtände, aber einen Ausſchnitt daraus, der mit intenſiver, momentaner Stärke auf das größere Ganze als Perſpective hinausweist, nicht die vollſtändige Entwick- lung einer Perſönlichkeit, aber ein Stück aus einem Menſchenleben, das eine Spannung, eine Kriſe hat und uns durch eine Gemüths- und Schick- ſalswendung mit ſcharfem Accente zeigt, was Menſchenleben überhaupt iſt. Man hat ſie einfach und richtig als eine Situation im Unterſchied von der Entwicklung durch eine Reihe von Situationen im Romane bezeichnet. Die Novelle hat dem Romane den Boden bereitet, das Erfahrungsbild der Welt erobert; das Mittelalter kannte Menſch und Welt nicht, träumte überall von Exemtionen, Bocaccio plauderte das Geheimniß aus, daß Menſchen Menſchen, „ſterbliche Menſchen“ ſind. Dieſelbe Bedeutung hat die große Beliebtheit des Schwankes, wie er im ſechszehnten Jahrhundert in Deutſchland herrſcht. Dieſe kleinen Formen ſind zum Theil bloße Anek- doten. Die Anekdote iſt mit kurzer Spannung und Löſung zufrieden ohne das Reſultat eines fruchtbaren, inhaltvollen Blickes in die Wahrheit des Menſchenlebens, daher meiſt komiſch; die Novelle dagegen bewegt ſich auch im tragiſchen Gebiet, und zwar mehr, als der Roman. Es liegt dieß in ihrer ſtrafferen Natur; wer Intereſſantes kurz erzählen will, muß das Retardirende ſchneller niederwerfen und auf die Kataſtrophe zueilen, wo ſich aber dieſe acuter hervordrängt, da iſt auch die ſchärfere Schneide des Schickſals, wie die Pritſche des lächerlichen Zufalls, im Zuge des Aus- holens. Es lag der modernen Zeit ſehr nahe, den Inhalt der Novelle als Thema zu behandeln, d. h. unſere Converſation und Debatte ſo in ſie zu verlegen, daß eine Lebensfrage, ein Kampf geiſtiger Richtungen, dunkle Erſcheinungen des Seelenlebens und dergl. vorherrſchend geſprächsweiſe er- örtert werden, während in den perſönlichen Schickſalen zugleich die factiſche Antwort erfolgt. Die Form iſt bedenklich, denn es liegt nur zu nahe, die zweite Seite, welche natürlich den weſentlichen Körper des Ganzen bilden müßte, zur Nebenſache zu machen und ſo die Idee didaktiſch, ſtatt poetiſch und zwar mit dem beſondern Geruche des Salons, der Theegeſellſchaft herauszuſtellen, wie wir in den meiſten Novellen Tieck’s ſehen. Ein Anderes iſt es, wenn eine harmloſe Geſellſchaft ſich Novellen erzählt, wie bei Bocaccio, wo denn ſchließlich allerdings auch die Erzählenden ſelbſt eine

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/182>, abgerufen am 25.04.2024.