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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Erzeugnisse, die man wohl in besonderer Anwendung des Worts allegorische
Gedichte genannt hat. So fühlt Göthe im Schwager Kronos mit den
Wechseln einer Wagenfahrt die Wechsel eines Menschenlebens warm und
innig zusammen; er läßt in dem nachgedichteten Volkslied Haidenröslein
einen schalkhaften Gedanken durch das Bild vom gebrochnen Blümchen
durchspielen; er spricht einen ernsten und tiefen Gedanken direct als Sinn
des Bildes aus im "Gesang der Geister über den Wassern", so Uhland in
der "Ulme zu Hirschau".

Der §. sagt, daß das Gefühl auch zu dem Ausdruck von bestimmten
Gedanken und Willensbewegungen fortgehe, um sich eine Sprache zu geben.
Wir haben einen Fall des Ersteren in den so eben angeführten Beispielen
gefunden, er enthält aber natürlich nicht die einzige Art, sondern in jeder
Weise wird der lyrische Dichter ausdrücklich Gedachtes seinem Erzeugniß
einflechten. Es ist die Vollendung des Unterschieds von der Musik, daß
hier das Gefühl zum wirklichen Betrachten, zum Denken des Allgemeinen
sich erschließt, ohne doch seinen Charakter zu verlieren, denn die Gedanken
dürfen nur auf seinem Strome schwimmen, müssen in das grundbestimmende
Element seines Erzitterns und Schwebens hineingezogen sein, oder richtiger,
nur aus ihm aufsteigen, um wieder in ihm unterzutauchen. Allerdings
liegt die Abirrung in das Sentenziöse und überhaupt das Philosophische,
Lehrhafte nahe, die Probe aber, ob dieß Außerästhetische der Ausgangspunct
und das Herrschende, oder nur ein Strahl sei, an dem das Helldunkel der
reinen Stimmung Licht sucht, wird nicht schwer sein. Wir kommen auf
diesen Punct und die allerdings feinen Grenzbestimmungen anderswo zurück.
Dieß gedankenhafte Element bezeichnet der §. kurz als das gnomische, natür-
lich nicht zu verwechseln mit der besondern Form der gnomischen Poesie. --
Auch mit Willensbewegungen verhält es sich so, daß die lyrische Dichtung,
während die Musik sie nur anzukündigen scheint, ohne sie aussprechen zu
können, sich ihrem wirklichen Ausdruck öffnet; ja es muß eine Lyrik des
Willenspathos, des kriegerischen, politischen, ethischen geben, die darum noch
nicht Tendenz-Poesie ist, sondern der Bedingung genügt, daß die Empfindung
das bestimmende Element bleibe, in welches die Idee, deren Widerspruch
mit der Wirklichkeit den Willens-Eifer begründet, erst ganz sich umgesetzt
hat. -- Eine andere, negative Bedingung, die gerade hier besonders zu
betonen ist, nämlich die, daß das Pathologische überwunden sei, wird
nachher zur Sprache kommen. Uebrigens versteht sich, daß, was wir epische
oder Anschauungs-Elemente genannt haben, in der Wirklichkeit von diesen
Eintritten in die Welt des denkenden und wollenden Geistes nicht zu trennen
ist, daß sie vielmehr insgesammt an und miteinander verlaufen.

2. Die Unterscheidung dieser Elemente, welche überall nach Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukunft hinweisen, führt auf die Zeitbestimmung.

Erzeugniſſe, die man wohl in beſonderer Anwendung des Worts allegoriſche
Gedichte genannt hat. So fühlt Göthe im Schwager Kronos mit den
Wechſeln einer Wagenfahrt die Wechſel eines Menſchenlebens warm und
innig zuſammen; er läßt in dem nachgedichteten Volkslied Haidenröslein
einen ſchalkhaften Gedanken durch das Bild vom gebrochnen Blümchen
durchſpielen; er ſpricht einen ernſten und tiefen Gedanken direct als Sinn
des Bildes aus im „Geſang der Geiſter über den Waſſern“, ſo Uhland in
der „Ulme zu Hirſchau“.

Der §. ſagt, daß das Gefühl auch zu dem Ausdruck von beſtimmten
Gedanken und Willensbewegungen fortgehe, um ſich eine Sprache zu geben.
Wir haben einen Fall des Erſteren in den ſo eben angeführten Beiſpielen
gefunden, er enthält aber natürlich nicht die einzige Art, ſondern in jeder
Weiſe wird der lyriſche Dichter ausdrücklich Gedachtes ſeinem Erzeugniß
einflechten. Es iſt die Vollendung des Unterſchieds von der Muſik, daß
hier das Gefühl zum wirklichen Betrachten, zum Denken des Allgemeinen
ſich erſchließt, ohne doch ſeinen Charakter zu verlieren, denn die Gedanken
dürfen nur auf ſeinem Strome ſchwimmen, müſſen in das grundbeſtimmende
Element ſeines Erzitterns und Schwebens hineingezogen ſein, oder richtiger,
nur aus ihm aufſteigen, um wieder in ihm unterzutauchen. Allerdings
liegt die Abirrung in das Sentenziöſe und überhaupt das Philoſophiſche,
Lehrhafte nahe, die Probe aber, ob dieß Außeräſthetiſche der Ausgangspunct
und das Herrſchende, oder nur ein Strahl ſei, an dem das Helldunkel der
reinen Stimmung Licht ſucht, wird nicht ſchwer ſein. Wir kommen auf
dieſen Punct und die allerdings feinen Grenzbeſtimmungen anderswo zurück.
Dieß gedankenhafte Element bezeichnet der §. kurz als das gnomiſche, natür-
lich nicht zu verwechſeln mit der beſondern Form der gnomiſchen Poeſie. —
Auch mit Willensbewegungen verhält es ſich ſo, daß die lyriſche Dichtung,
während die Muſik ſie nur anzukündigen ſcheint, ohne ſie ausſprechen zu
können, ſich ihrem wirklichen Ausdruck öffnet; ja es muß eine Lyrik des
Willenspathos, des kriegeriſchen, politiſchen, ethiſchen geben, die darum noch
nicht Tendenz-Poeſie iſt, ſondern der Bedingung genügt, daß die Empfindung
das beſtimmende Element bleibe, in welches die Idee, deren Widerſpruch
mit der Wirklichkeit den Willens-Eifer begründet, erſt ganz ſich umgeſetzt
hat. — Eine andere, negative Bedingung, die gerade hier beſonders zu
betonen iſt, nämlich die, daß das Pathologiſche überwunden ſei, wird
nachher zur Sprache kommen. Uebrigens verſteht ſich, daß, was wir epiſche
oder Anſchauungs-Elemente genannt haben, in der Wirklichkeit von dieſen
Eintritten in die Welt des denkenden und wollenden Geiſtes nicht zu trennen
iſt, daß ſie vielmehr insgeſammt an und miteinander verlaufen.

2. Die Unterſcheidung dieſer Elemente, welche überall nach Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukunft hinweiſen, führt auf die Zeitbeſtimmung.

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[1329/0193] Erzeugniſſe, die man wohl in beſonderer Anwendung des Worts allegoriſche Gedichte genannt hat. So fühlt Göthe im Schwager Kronos mit den Wechſeln einer Wagenfahrt die Wechſel eines Menſchenlebens warm und innig zuſammen; er läßt in dem nachgedichteten Volkslied Haidenröslein einen ſchalkhaften Gedanken durch das Bild vom gebrochnen Blümchen durchſpielen; er ſpricht einen ernſten und tiefen Gedanken direct als Sinn des Bildes aus im „Geſang der Geiſter über den Waſſern“, ſo Uhland in der „Ulme zu Hirſchau“. Der §. ſagt, daß das Gefühl auch zu dem Ausdruck von beſtimmten Gedanken und Willensbewegungen fortgehe, um ſich eine Sprache zu geben. Wir haben einen Fall des Erſteren in den ſo eben angeführten Beiſpielen gefunden, er enthält aber natürlich nicht die einzige Art, ſondern in jeder Weiſe wird der lyriſche Dichter ausdrücklich Gedachtes ſeinem Erzeugniß einflechten. Es iſt die Vollendung des Unterſchieds von der Muſik, daß hier das Gefühl zum wirklichen Betrachten, zum Denken des Allgemeinen ſich erſchließt, ohne doch ſeinen Charakter zu verlieren, denn die Gedanken dürfen nur auf ſeinem Strome ſchwimmen, müſſen in das grundbeſtimmende Element ſeines Erzitterns und Schwebens hineingezogen ſein, oder richtiger, nur aus ihm aufſteigen, um wieder in ihm unterzutauchen. Allerdings liegt die Abirrung in das Sentenziöſe und überhaupt das Philoſophiſche, Lehrhafte nahe, die Probe aber, ob dieß Außeräſthetiſche der Ausgangspunct und das Herrſchende, oder nur ein Strahl ſei, an dem das Helldunkel der reinen Stimmung Licht ſucht, wird nicht ſchwer ſein. Wir kommen auf dieſen Punct und die allerdings feinen Grenzbeſtimmungen anderswo zurück. Dieß gedankenhafte Element bezeichnet der §. kurz als das gnomiſche, natür- lich nicht zu verwechſeln mit der beſondern Form der gnomiſchen Poeſie. — Auch mit Willensbewegungen verhält es ſich ſo, daß die lyriſche Dichtung, während die Muſik ſie nur anzukündigen ſcheint, ohne ſie ausſprechen zu können, ſich ihrem wirklichen Ausdruck öffnet; ja es muß eine Lyrik des Willenspathos, des kriegeriſchen, politiſchen, ethiſchen geben, die darum noch nicht Tendenz-Poeſie iſt, ſondern der Bedingung genügt, daß die Empfindung das beſtimmende Element bleibe, in welches die Idee, deren Widerſpruch mit der Wirklichkeit den Willens-Eifer begründet, erſt ganz ſich umgeſetzt hat. — Eine andere, negative Bedingung, die gerade hier beſonders zu betonen iſt, nämlich die, daß das Pathologiſche überwunden ſei, wird nachher zur Sprache kommen. Uebrigens verſteht ſich, daß, was wir epiſche oder Anſchauungs-Elemente genannt haben, in der Wirklichkeit von dieſen Eintritten in die Welt des denkenden und wollenden Geiſtes nicht zu trennen iſt, daß ſie vielmehr insgeſammt an und miteinander verlaufen. 2. Die Unterſcheidung dieſer Elemente, welche überall nach Vergangen- heit, Gegenwart und Zukunft hinweiſen, führt auf die Zeitbeſtimmung.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/193>, abgerufen am 25.04.2024.