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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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hinter ihnen als dünnen Masken steht und hervorspricht, er zeichnet das
Böse und Niedrige mit seinem Hasse, statt ihm den kurzen Schein behag-
licher Berechtigung zu gönnen. Wo er diese Subjectivität, welche wohl
in Allgemeinheit des Gedankens und reiner Liebe die Welt umfaßt, aber
nicht im Sinne der poetischen Selbstverwandlung eine Welt ist, am meisten
überwunden hat, im Wallenstein, spart er sich doch die Parthie von Max
und Thekla als directes Gefäß für sein Gemüth aus, und eben diese
Parthie hat daher am wenigsten Haltung und Farbe von Stoff und Schau-
platz. Das Drama fordert einen Geist, der im Subjectiven selbst ganz
objectiv ist, der daher, wenn er sich ausspricht, den Gegenstand und zwar im
großen Sinne des Wortes, die Welt, ausspricht; es ist eine totale Selbstum-
setzung, die reinste Reproduction des Traumes (vergl. §. 390) im hellen Wachen.
In dem Werke dieser concentrirtesten und expandirtesten Form der Phantasie
ist daher verschwunden jene epische Synthese von Subject und Object und
jenes lyrische Alleinsein des Subjects, welches die Welt in sich resorbirt.
Man sieht keinen Dichter, sein Subject ist verschwunden, aber es ist ver-
schwunden, weil es im Werke ganz da ist, nichts blos Subjectives zurückbe-
halten hat. Es ist von zwei Seiten die reine Einheit des Subjectiven
und Objectiven: blickt man auf die subjective Seite, so sieht man den
Dichter, der, wenn er ganz sich gibt, die Welt gibt; blickt man auf die
objective, so sieht man die Welt, die eine ganze und reine Entäußerung des
dichterischen Subjects, daher ganz von subjectivem Leben durchdrungen, durch-
arbeitet ist. Von keinem Werke der Kunst gilt daher so ganz und absolut,
was für alle Kunst in den angeführten §§. als Forderung aufgestellt ist; keines
steht so ganz auf eigenen Füßen, rein abgelöst vom Künstler wie ein Natur-
werk, eine selbständige Welt, ein Planet, der sich um sich selber dreht, und
ist zugleich der Object gewordene Geist des Künstlersubjects. -- Es erhellt,
daß eine solche Kunstform in der zeitlichen Entwicklung nicht nur die epische
Naivetät, sondern auch die subjective Bewegtheit der Lyrik hinter sich haben
muß und eine noch ungleich mehr geschüttelte, erfahrungsreiche, energische
und befreite Welt voraussetzt, als die letztere. In Griechenland stand das
Drama auf, als jene Kämpfe mit Tyrannis und Aristokratie, deren Unruhe
das lyrische Bewegungsleben des Gemüths gelüftet hatte, zur Entscheidung
gelangt, die Freiheit in der Demokratie eine Thatsache geworden und durch
den Sieg über die Perser die Geister zum vollsten Selbstbewußtsein gekommen
waren. Das Mittelalter konnte kein wahres Drama haben, die Mysterien
sind noch eine halb-epische Form mit eingesetzten lyrischen Gesängen. Man
kann diese Erscheinung in beschränktem Sinne Volksdrama nennen; in
welcher Begrenzung von einer fortdauernden Thätigkeit der Volkspoesie
im dramatischen Gebiete die Rede sein könne, werden wir im Zusammen-
hang der Komödie zur Sprache bringen. Das wirkliche und wahre Drama

hinter ihnen als dünnen Masken ſteht und hervorſpricht, er zeichnet das
Böſe und Niedrige mit ſeinem Haſſe, ſtatt ihm den kurzen Schein behag-
licher Berechtigung zu gönnen. Wo er dieſe Subjectivität, welche wohl
in Allgemeinheit des Gedankens und reiner Liebe die Welt umfaßt, aber
nicht im Sinne der poetiſchen Selbſtverwandlung eine Welt iſt, am meiſten
überwunden hat, im Wallenſtein, ſpart er ſich doch die Parthie von Max
und Thekla als directes Gefäß für ſein Gemüth aus, und eben dieſe
Parthie hat daher am wenigſten Haltung und Farbe von Stoff und Schau-
platz. Das Drama fordert einen Geiſt, der im Subjectiven ſelbſt ganz
objectiv iſt, der daher, wenn er ſich ausſpricht, den Gegenſtand und zwar im
großen Sinne des Wortes, die Welt, ausſpricht; es iſt eine totale Selbſtum-
ſetzung, die reinſte Reproduction des Traumes (vergl. §. 390) im hellen Wachen.
In dem Werke dieſer concentrirteſten und expandirteſten Form der Phantaſie
iſt daher verſchwunden jene epiſche Syntheſe von Subject und Object und
jenes lyriſche Alleinſein des Subjects, welches die Welt in ſich reſorbirt.
Man ſieht keinen Dichter, ſein Subject iſt verſchwunden, aber es iſt ver-
ſchwunden, weil es im Werke ganz da iſt, nichts blos Subjectives zurückbe-
halten hat. Es iſt von zwei Seiten die reine Einheit des Subjectiven
und Objectiven: blickt man auf die ſubjective Seite, ſo ſieht man den
Dichter, der, wenn er ganz ſich gibt, die Welt gibt; blickt man auf die
objective, ſo ſieht man die Welt, die eine ganze und reine Entäußerung des
dichteriſchen Subjects, daher ganz von ſubjectivem Leben durchdrungen, durch-
arbeitet iſt. Von keinem Werke der Kunſt gilt daher ſo ganz und abſolut,
was für alle Kunſt in den angeführten §§. als Forderung aufgeſtellt iſt; keines
ſteht ſo ganz auf eigenen Füßen, rein abgelöst vom Künſtler wie ein Natur-
werk, eine ſelbſtändige Welt, ein Planet, der ſich um ſich ſelber dreht, und
iſt zugleich der Object gewordene Geiſt des Künſtlerſubjects. — Es erhellt,
daß eine ſolche Kunſtform in der zeitlichen Entwicklung nicht nur die epiſche
Naivetät, ſondern auch die ſubjective Bewegtheit der Lyrik hinter ſich haben
muß und eine noch ungleich mehr geſchüttelte, erfahrungsreiche, energiſche
und befreite Welt vorausſetzt, als die letztere. In Griechenland ſtand das
Drama auf, als jene Kämpfe mit Tyrannis und Ariſtokratie, deren Unruhe
das lyriſche Bewegungsleben des Gemüths gelüftet hatte, zur Entſcheidung
gelangt, die Freiheit in der Demokratie eine Thatſache geworden und durch
den Sieg über die Perſer die Geiſter zum vollſten Selbſtbewußtſein gekommen
waren. Das Mittelalter konnte kein wahres Drama haben, die Myſterien
ſind noch eine halb-epiſche Form mit eingeſetzten lyriſchen Geſängen. Man
kann dieſe Erſcheinung in beſchränktem Sinne Volksdrama nennen; in
welcher Begrenzung von einer fortdauernden Thätigkeit der Volkspoeſie
im dramatiſchen Gebiete die Rede ſein könne, werden wir im Zuſammen-
hang der Komödie zur Sprache bringen. Das wirkliche und wahre Drama

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[1380/0244] hinter ihnen als dünnen Masken ſteht und hervorſpricht, er zeichnet das Böſe und Niedrige mit ſeinem Haſſe, ſtatt ihm den kurzen Schein behag- licher Berechtigung zu gönnen. Wo er dieſe Subjectivität, welche wohl in Allgemeinheit des Gedankens und reiner Liebe die Welt umfaßt, aber nicht im Sinne der poetiſchen Selbſtverwandlung eine Welt iſt, am meiſten überwunden hat, im Wallenſtein, ſpart er ſich doch die Parthie von Max und Thekla als directes Gefäß für ſein Gemüth aus, und eben dieſe Parthie hat daher am wenigſten Haltung und Farbe von Stoff und Schau- platz. Das Drama fordert einen Geiſt, der im Subjectiven ſelbſt ganz objectiv iſt, der daher, wenn er ſich ausſpricht, den Gegenſtand und zwar im großen Sinne des Wortes, die Welt, ausſpricht; es iſt eine totale Selbſtum- ſetzung, die reinſte Reproduction des Traumes (vergl. §. 390) im hellen Wachen. In dem Werke dieſer concentrirteſten und expandirteſten Form der Phantaſie iſt daher verſchwunden jene epiſche Syntheſe von Subject und Object und jenes lyriſche Alleinſein des Subjects, welches die Welt in ſich reſorbirt. Man ſieht keinen Dichter, ſein Subject iſt verſchwunden, aber es iſt ver- ſchwunden, weil es im Werke ganz da iſt, nichts blos Subjectives zurückbe- halten hat. Es iſt von zwei Seiten die reine Einheit des Subjectiven und Objectiven: blickt man auf die ſubjective Seite, ſo ſieht man den Dichter, der, wenn er ganz ſich gibt, die Welt gibt; blickt man auf die objective, ſo ſieht man die Welt, die eine ganze und reine Entäußerung des dichteriſchen Subjects, daher ganz von ſubjectivem Leben durchdrungen, durch- arbeitet iſt. Von keinem Werke der Kunſt gilt daher ſo ganz und abſolut, was für alle Kunſt in den angeführten §§. als Forderung aufgeſtellt iſt; keines ſteht ſo ganz auf eigenen Füßen, rein abgelöst vom Künſtler wie ein Natur- werk, eine ſelbſtändige Welt, ein Planet, der ſich um ſich ſelber dreht, und iſt zugleich der Object gewordene Geiſt des Künſtlerſubjects. — Es erhellt, daß eine ſolche Kunſtform in der zeitlichen Entwicklung nicht nur die epiſche Naivetät, ſondern auch die ſubjective Bewegtheit der Lyrik hinter ſich haben muß und eine noch ungleich mehr geſchüttelte, erfahrungsreiche, energiſche und befreite Welt vorausſetzt, als die letztere. In Griechenland ſtand das Drama auf, als jene Kämpfe mit Tyrannis und Ariſtokratie, deren Unruhe das lyriſche Bewegungsleben des Gemüths gelüftet hatte, zur Entſcheidung gelangt, die Freiheit in der Demokratie eine Thatſache geworden und durch den Sieg über die Perſer die Geiſter zum vollſten Selbſtbewußtſein gekommen waren. Das Mittelalter konnte kein wahres Drama haben, die Myſterien ſind noch eine halb-epiſche Form mit eingeſetzten lyriſchen Geſängen. Man kann dieſe Erſcheinung in beſchränktem Sinne Volksdrama nennen; in welcher Begrenzung von einer fortdauernden Thätigkeit der Volkspoeſie im dramatiſchen Gebiete die Rede ſein könne, werden wir im Zuſammen- hang der Komödie zur Sprache bringen. Das wirkliche und wahre Drama

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/244>, abgerufen am 25.04.2024.