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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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gegenübergestellt, schließt sich an jene Momente an und selbst Kinder mit
einigen Strichen von Charakterzeichnung sind nothwendig. Der That der
Vertheidigung der Familie und des Vaterlands stellt der Dichter in starkem
Contraste den Mord aus Rache entgegen in Joh. Parricida. Auf der
andern Seite die Tyrannei in Geßler; sie erfordert Werkzeuge, Begleiter,
Soldaten. In der Mitte steht der Adel des Landes, theils national gesinnt,
aber die Erhebung des Volkes als solchen, das Aufsteigen der Demokratie
erst im Tode erkennend, theils der fremden Gewaltherrschaft anhängend, im
Verlauf aber zur nationalen Sache übergehend: Attinghausen und Rudenz.
Die Massen aber, welche die Befreiung im Großen vollbringen, sind nur
angedeutet. Die Frage, ob der Stoff des W. Tell nicht mehr episch, als
dramatisch ist, brauchen wir hier nicht zu untersuchen, denn wir hätten
genug andere unzweifelhaft dramatische Stoffe als Beispiel anführen können,
welche für eine große nationale Handlung Massen in Bewegung setzen
müssen. Auch auf dieser Seite tritt nun aber im Drama doch eine Zu-
sammenziehung der epischen Breite ein: verhältnißmäßig Wenige gelten als
Repräsentanten für sehr Viele, und aus den Figuren, welche die Masse
vertreten, sind nur einige skizzirt, so daß man erkennt, es handle sich hier
blos um ein Material, das nicht den Vollwerth der freien Persönlichkeit
hat und daher nur den Saum der Darstellung bildet. Aber, was wichtiger
ist, auch der Häupter der Handlung sind gegen die Fülle von Helden im
Epos Wenige, denn das Drama ist eingedenk, daß der durchgreifende Geist
der Geschichte sich in wenige Zähler neben unendlich vielen Nieten zusam-
menfaßt. Man sieht auch hier die Aehnlichkeit mit der Plastik, welche,
wie sie die Natur-Umgebungen durch Weniges symbolisch andeutet, so in
der Hauptsache, in den Figuren, auf den Begriff der Vertretung Vieler
durch Wenige (vergl. §. 606) und keineswegs blos auf die Beachtung
der technischen Schwierigkeiten ihre Sparsamkeit in der Figurenzahl gründet.
-- Es versteht sich nun, daß ein Werth-Unterschied unter den Personen
der Handlung ist, und davon muß schon hier, in der Erörterung des allge-
meinen Wesens der dramatischen Kunstform, die Rede sein, während die
spezielle künstlerische Seite dem Abschnitte von der dramatischen Composition
angehört. Wo sich das Leben und die Geschichte zu einer entscheidenden
Spitze treibt, da muß es Eine Person sein, in welcher diese Bewegung
sich zusammenfaßt; das Drama hat daher nothwendig in viel engerem Sinn
eine Hauptperson, einen Helden, als das Epos, in welchem wohl auch
eine Gestalt alle andern überragt und das höchste Interesse auf sich zieht,
denn dort schneidet der herrschende Charakter das Bestehende durch, hier ist
er nur die höchste Fülle, das reinste Bild der Kräfte, die sich rings um
ihn her ausbreiten, er schwimmt oben auf dem Strome dieses Ganzen,
gegen den der dramatische Held ankämpft. Es kann nur äußerst seltene

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gegenübergeſtellt, ſchließt ſich an jene Momente an und ſelbſt Kinder mit
einigen Strichen von Charakterzeichnung ſind nothwendig. Der That der
Vertheidigung der Familie und des Vaterlands ſtellt der Dichter in ſtarkem
Contraſte den Mord aus Rache entgegen in Joh. Parricida. Auf der
andern Seite die Tyrannei in Geßler; ſie erfordert Werkzeuge, Begleiter,
Soldaten. In der Mitte ſteht der Adel des Landes, theils national geſinnt,
aber die Erhebung des Volkes als ſolchen, das Aufſteigen der Demokratie
erſt im Tode erkennend, theils der fremden Gewaltherrſchaft anhängend, im
Verlauf aber zur nationalen Sache übergehend: Attinghauſen und Rudenz.
Die Maſſen aber, welche die Befreiung im Großen vollbringen, ſind nur
angedeutet. Die Frage, ob der Stoff des W. Tell nicht mehr epiſch, als
dramatiſch iſt, brauchen wir hier nicht zu unterſuchen, denn wir hätten
genug andere unzweifelhaft dramatiſche Stoffe als Beiſpiel anführen können,
welche für eine große nationale Handlung Maſſen in Bewegung ſetzen
müſſen. Auch auf dieſer Seite tritt nun aber im Drama doch eine Zu-
ſammenziehung der epiſchen Breite ein: verhältnißmäßig Wenige gelten als
Repräſentanten für ſehr Viele, und aus den Figuren, welche die Maſſe
vertreten, ſind nur einige ſkizzirt, ſo daß man erkennt, es handle ſich hier
blos um ein Material, das nicht den Vollwerth der freien Perſönlichkeit
hat und daher nur den Saum der Darſtellung bildet. Aber, was wichtiger
iſt, auch der Häupter der Handlung ſind gegen die Fülle von Helden im
Epos Wenige, denn das Drama iſt eingedenk, daß der durchgreifende Geiſt
der Geſchichte ſich in wenige Zähler neben unendlich vielen Nieten zuſam-
menfaßt. Man ſieht auch hier die Aehnlichkeit mit der Plaſtik, welche,
wie ſie die Natur-Umgebungen durch Weniges ſymboliſch andeutet, ſo in
der Hauptſache, in den Figuren, auf den Begriff der Vertretung Vieler
durch Wenige (vergl. §. 606) und keineswegs blos auf die Beachtung
der techniſchen Schwierigkeiten ihre Sparſamkeit in der Figurenzahl gründet.
— Es verſteht ſich nun, daß ein Werth-Unterſchied unter den Perſonen
der Handlung iſt, und davon muß ſchon hier, in der Erörterung des allge-
meinen Weſens der dramatiſchen Kunſtform, die Rede ſein, während die
ſpezielle künſtleriſche Seite dem Abſchnitte von der dramatiſchen Compoſition
angehört. Wo ſich das Leben und die Geſchichte zu einer entſcheidenden
Spitze treibt, da muß es Eine Perſon ſein, in welcher dieſe Bewegung
ſich zuſammenfaßt; das Drama hat daher nothwendig in viel engerem Sinn
eine Hauptperſon, einen Helden, als das Epos, in welchem wohl auch
eine Geſtalt alle andern überragt und das höchſte Intereſſe auf ſich zieht,
denn dort ſchneidet der herrſchende Charakter das Beſtehende durch, hier iſt
er nur die höchſte Fülle, das reinſte Bild der Kräfte, die ſich rings um
ihn her ausbreiten, er ſchwimmt oben auf dem Strome dieſes Ganzen,
gegen den der dramatiſche Held ankämpft. Es kann nur äußerſt ſeltene

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[1385/0249] gegenübergeſtellt, ſchließt ſich an jene Momente an und ſelbſt Kinder mit einigen Strichen von Charakterzeichnung ſind nothwendig. Der That der Vertheidigung der Familie und des Vaterlands ſtellt der Dichter in ſtarkem Contraſte den Mord aus Rache entgegen in Joh. Parricida. Auf der andern Seite die Tyrannei in Geßler; ſie erfordert Werkzeuge, Begleiter, Soldaten. In der Mitte ſteht der Adel des Landes, theils national geſinnt, aber die Erhebung des Volkes als ſolchen, das Aufſteigen der Demokratie erſt im Tode erkennend, theils der fremden Gewaltherrſchaft anhängend, im Verlauf aber zur nationalen Sache übergehend: Attinghauſen und Rudenz. Die Maſſen aber, welche die Befreiung im Großen vollbringen, ſind nur angedeutet. Die Frage, ob der Stoff des W. Tell nicht mehr epiſch, als dramatiſch iſt, brauchen wir hier nicht zu unterſuchen, denn wir hätten genug andere unzweifelhaft dramatiſche Stoffe als Beiſpiel anführen können, welche für eine große nationale Handlung Maſſen in Bewegung ſetzen müſſen. Auch auf dieſer Seite tritt nun aber im Drama doch eine Zu- ſammenziehung der epiſchen Breite ein: verhältnißmäßig Wenige gelten als Repräſentanten für ſehr Viele, und aus den Figuren, welche die Maſſe vertreten, ſind nur einige ſkizzirt, ſo daß man erkennt, es handle ſich hier blos um ein Material, das nicht den Vollwerth der freien Perſönlichkeit hat und daher nur den Saum der Darſtellung bildet. Aber, was wichtiger iſt, auch der Häupter der Handlung ſind gegen die Fülle von Helden im Epos Wenige, denn das Drama iſt eingedenk, daß der durchgreifende Geiſt der Geſchichte ſich in wenige Zähler neben unendlich vielen Nieten zuſam- menfaßt. Man ſieht auch hier die Aehnlichkeit mit der Plaſtik, welche, wie ſie die Natur-Umgebungen durch Weniges ſymboliſch andeutet, ſo in der Hauptſache, in den Figuren, auf den Begriff der Vertretung Vieler durch Wenige (vergl. §. 606) und keineswegs blos auf die Beachtung der techniſchen Schwierigkeiten ihre Sparſamkeit in der Figurenzahl gründet. — Es verſteht ſich nun, daß ein Werth-Unterſchied unter den Perſonen der Handlung iſt, und davon muß ſchon hier, in der Erörterung des allge- meinen Weſens der dramatiſchen Kunſtform, die Rede ſein, während die ſpezielle künſtleriſche Seite dem Abſchnitte von der dramatiſchen Compoſition angehört. Wo ſich das Leben und die Geſchichte zu einer entſcheidenden Spitze treibt, da muß es Eine Perſon ſein, in welcher dieſe Bewegung ſich zuſammenfaßt; das Drama hat daher nothwendig in viel engerem Sinn eine Hauptperſon, einen Helden, als das Epos, in welchem wohl auch eine Geſtalt alle andern überragt und das höchſte Intereſſe auf ſich zieht, denn dort ſchneidet der herrſchende Charakter das Beſtehende durch, hier iſt er nur die höchſte Fülle, das reinſte Bild der Kräfte, die ſich rings um ihn her ausbreiten, er ſchwimmt oben auf dem Strome dieſes Ganzen, gegen den der dramatiſche Held ankämpft. Es kann nur äußerſt ſeltene 89*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/249>, abgerufen am 24.04.2024.