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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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und Malerei auszuschließen seien, darum möglich, weil diese durch das hör-
bare
, minder lebhaft und anschaulich wirkende Wort schildere; hier ver-
wechselt er selbst Inhalt und Darstellungsweise; es sollte heißen: weil die
Poesie vermittelst des Worts nur auf die Phantasie, nicht auf die äußere
Anschauung wirke. Darin liegt dann als besonderes Moment, daß durch
jenes Vehikel, dessen Laut mit dem Dargestellten an sich gar nichts zu
schaffen hat, auch Gehörs-Eindrücke vergegenwärtigt werden können, und
dieß eben ist der Fall in dem Beispiele von Laokoon. Der geöffnete Mund
wäre im Marmor oder auf der Leinwand nicht darum häßlich, weil schreien
momentan, sondern weil es, für das Auge allein dargestellt, ein Momen-
tanes häßlicher Art ist; der Dichter aber gibt uns nur eine schwache Vor-
stellung vom offenen Mund und lenkt uns überdieß auf den furchtbaren
Laut ab. Uebrigens, nachdem man einer wissenschaftlichen Verwechslung
von Inhalt und Darstellungsmittel gehörig vorgebeugt, hat man dann
dennoch nicht zu übersehen, daß der Zuschauer bis zu einem gewissen
Grade allerdings dieses auf jenen in seinem Gefühl unwillkürlich überträgt,
und dieß ist eben der Fall bei Solchem, was, wenn es mehr, als momentan,
ist, widerlich wird; da meint man denn, es wolle sich, von der bildenden
Kunst technisch festgehalten, auch wirklich für permanent erklären. Daher
bleibt trotz der ursprünglichen Verwechslung Lessing's Satz richtig, daß der
Laokoon im Marmor immer zu schreien schiene, während der des Dichters
nur einen Augenblick schreit. -- Ein weiteres Mittel, wodurch die Poesie das
Häßliche in erweitertem Umfang einzuführen und aufzulösen sich befähigt,
ist die Farbe. Sie theilt es mit der Malerei, es hat aber für sie, wie für
die letztere, nicht nur die Bedeutung eines mildernden Uebermittelns an
einen andern Sinn, sondern einer Eintiefung der ganzen Erscheinungswelt
und einer Dämpfung ihrer Härten durch die Herrschaft des Ausdrucks
über die Form. Der Dichter hat aber durch das Wort noch einen Reich-
thum von andern Vortheilen, denn er bringt vermittelst desselben eine
Summe von Zügen herbei, die sämmtlich verhindern, daß das Häßliche
sich als solches verhärte, und es schließlich als Moment in den Fluß der
Handlung überführen. Lessing zeigt a. a. O., wie Laokoons Schreien
das Störende auch dadurch verliert, daß uns der Dichter so viele andere
Züge des unglücklichen Priesters kennen lehrt. Angesichts solcher Freiheit
erhellt noch entschiedener, als bei andern Künsten, daß der Begriff einer
bloßen Zulassung des Häßlichen unzulänglich ist: die Poesie kann nicht
nur, sondern sie will und soll das Häßliche erst in seinem ganzen und
wahren Wesen in die Kunst einführen, denn das Häßl[i]che ist schließlich
(vgl. §. 108, Anm. 1) das Böse in seiner Erscheinung und erst diese Kunst
öffnet ja wahrhaft die innere, die sittliche Welt, welche ohne die Contrast-
wirkungen und das Ferment des Bösen gar nicht denkbar ist. Durch die

und Malerei auszuſchließen ſeien, darum möglich, weil dieſe durch das hör-
bare
, minder lebhaft und anſchaulich wirkende Wort ſchildere; hier ver-
wechſelt er ſelbſt Inhalt und Darſtellungsweiſe; es ſollte heißen: weil die
Poeſie vermittelſt des Worts nur auf die Phantaſie, nicht auf die äußere
Anſchauung wirke. Darin liegt dann als beſonderes Moment, daß durch
jenes Vehikel, deſſen Laut mit dem Dargeſtellten an ſich gar nichts zu
ſchaffen hat, auch Gehörs-Eindrücke vergegenwärtigt werden können, und
dieß eben iſt der Fall in dem Beiſpiele von Laokoon. Der geöffnete Mund
wäre im Marmor oder auf der Leinwand nicht darum häßlich, weil ſchreien
momentan, ſondern weil es, für das Auge allein dargeſtellt, ein Momen-
tanes häßlicher Art iſt; der Dichter aber gibt uns nur eine ſchwache Vor-
ſtellung vom offenen Mund und lenkt uns überdieß auf den furchtbaren
Laut ab. Uebrigens, nachdem man einer wiſſenſchaftlichen Verwechslung
von Inhalt und Darſtellungsmittel gehörig vorgebeugt, hat man dann
dennoch nicht zu überſehen, daß der Zuſchauer bis zu einem gewiſſen
Grade allerdings dieſes auf jenen in ſeinem Gefühl unwillkürlich überträgt,
und dieß iſt eben der Fall bei Solchem, was, wenn es mehr, als momentan,
iſt, widerlich wird; da meint man denn, es wolle ſich, von der bildenden
Kunſt techniſch feſtgehalten, auch wirklich für permanent erklären. Daher
bleibt trotz der urſprünglichen Verwechslung Leſſing’s Satz richtig, daß der
Laokoon im Marmor immer zu ſchreien ſchiene, während der des Dichters
nur einen Augenblick ſchreit. — Ein weiteres Mittel, wodurch die Poeſie das
Häßliche in erweitertem Umfang einzuführen und aufzulöſen ſich befähigt,
iſt die Farbe. Sie theilt es mit der Malerei, es hat aber für ſie, wie für
die letztere, nicht nur die Bedeutung eines mildernden Uebermittelns an
einen andern Sinn, ſondern einer Eintiefung der ganzen Erſcheinungswelt
und einer Dämpfung ihrer Härten durch die Herrſchaft des Ausdrucks
über die Form. Der Dichter hat aber durch das Wort noch einen Reich-
thum von andern Vortheilen, denn er bringt vermittelſt deſſelben eine
Summe von Zügen herbei, die ſämmtlich verhindern, daß das Häßliche
ſich als ſolches verhärte, und es ſchließlich als Moment in den Fluß der
Handlung überführen. Leſſing zeigt a. a. O., wie Laokoons Schreien
das Störende auch dadurch verliert, daß uns der Dichter ſo viele andere
Züge des unglücklichen Prieſters kennen lehrt. Angeſichts ſolcher Freiheit
erhellt noch entſchiedener, als bei andern Künſten, daß der Begriff einer
bloßen Zulaſſung des Häßlichen unzulänglich iſt: die Poeſie kann nicht
nur, ſondern ſie will und ſoll das Häßliche erſt in ſeinem ganzen und
wahren Weſen in die Kunſt einführen, denn das Häßl[i]che iſt ſchließlich
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[1189/0053] und Malerei auszuſchließen ſeien, darum möglich, weil dieſe durch das hör- bare, minder lebhaft und anſchaulich wirkende Wort ſchildere; hier ver- wechſelt er ſelbſt Inhalt und Darſtellungsweiſe; es ſollte heißen: weil die Poeſie vermittelſt des Worts nur auf die Phantaſie, nicht auf die äußere Anſchauung wirke. Darin liegt dann als beſonderes Moment, daß durch jenes Vehikel, deſſen Laut mit dem Dargeſtellten an ſich gar nichts zu ſchaffen hat, auch Gehörs-Eindrücke vergegenwärtigt werden können, und dieß eben iſt der Fall in dem Beiſpiele von Laokoon. Der geöffnete Mund wäre im Marmor oder auf der Leinwand nicht darum häßlich, weil ſchreien momentan, ſondern weil es, für das Auge allein dargeſtellt, ein Momen- tanes häßlicher Art iſt; der Dichter aber gibt uns nur eine ſchwache Vor- ſtellung vom offenen Mund und lenkt uns überdieß auf den furchtbaren Laut ab. Uebrigens, nachdem man einer wiſſenſchaftlichen Verwechslung von Inhalt und Darſtellungsmittel gehörig vorgebeugt, hat man dann dennoch nicht zu überſehen, daß der Zuſchauer bis zu einem gewiſſen Grade allerdings dieſes auf jenen in ſeinem Gefühl unwillkürlich überträgt, und dieß iſt eben der Fall bei Solchem, was, wenn es mehr, als momentan, iſt, widerlich wird; da meint man denn, es wolle ſich, von der bildenden Kunſt techniſch feſtgehalten, auch wirklich für permanent erklären. Daher bleibt trotz der urſprünglichen Verwechslung Leſſing’s Satz richtig, daß der Laokoon im Marmor immer zu ſchreien ſchiene, während der des Dichters nur einen Augenblick ſchreit. — Ein weiteres Mittel, wodurch die Poeſie das Häßliche in erweitertem Umfang einzuführen und aufzulöſen ſich befähigt, iſt die Farbe. Sie theilt es mit der Malerei, es hat aber für ſie, wie für die letztere, nicht nur die Bedeutung eines mildernden Uebermittelns an einen andern Sinn, ſondern einer Eintiefung der ganzen Erſcheinungswelt und einer Dämpfung ihrer Härten durch die Herrſchaft des Ausdrucks über die Form. Der Dichter hat aber durch das Wort noch einen Reich- thum von andern Vortheilen, denn er bringt vermittelſt deſſelben eine Summe von Zügen herbei, die ſämmtlich verhindern, daß das Häßliche ſich als ſolches verhärte, und es ſchließlich als Moment in den Fluß der Handlung überführen. Leſſing zeigt a. a. O., wie Laokoons Schreien das Störende auch dadurch verliert, daß uns der Dichter ſo viele andere Züge des unglücklichen Prieſters kennen lehrt. Angeſichts ſolcher Freiheit erhellt noch entſchiedener, als bei andern Künſten, daß der Begriff einer bloßen Zulaſſung des Häßlichen unzulänglich iſt: die Poeſie kann nicht nur, ſondern ſie will und ſoll das Häßliche erſt in ſeinem ganzen und wahren Weſen in die Kunſt einführen, denn das Häßliche iſt ſchließlich (vgl. §. 108, Anm. 1) das Böſe in ſeiner Erſcheinung und erſt dieſe Kunſt öffnet ja wahrhaft die innere, die ſittliche Welt, welche ohne die Contraſt- wirkungen und das Ferment des Böſen gar nicht denkbar iſt. Durch die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/53>, abgerufen am 29.03.2024.