Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Häßliche ist, wie wir gesehen haben, da, wo alle Kunstmittel
vorhanden sind, es aufzulösen, nicht blos zugelassen, sondern es wird her-
beigerufen, die Kunst muß es wollen. Das Häßliche ist nur die Spitze
einer Formenwelt, welche in ihren niedrigeren Graden blos abweichend vom
rein entwickelten Normaltypus einer Gattung, unregelmäßig u. s. w. genannt
wird. Es geht nun in der Poesie der Zug der Auffassungsweise nothwen-
dig dahin, daß nicht die einzelne Gestalt im Sinne des Normaltypus schön
sei, sondern das Schöne aus einer Gesammtwirkung entspringe, worin mehr
oder minder unregelmäßige, vom Maaßstab ihrer Gattung mit mehr oder
minder Eigenheit bis zur Empörung des Häßlichen abweichende Erscheinungen
zusammentreten. Der Grund davon ist zunächst ebenderselbe wie in der
Malerei: die Mitaufnahme des die Hauptgestalten Umgebenden, die über-
leitende, dämpfende Farbe, die freie Einführung einer Vielheit von Gestalten,
das Vorwiegen des Ausdrucks über die Form: alles dieß zieht so zu sagen
an der einzelnen Gestalt, lockert die Selbständigkeit der ästhetischen Geltung,
auf, die ihr in der Götterbildenden Plastik zukommt, und verändert den
festen Körper des Schönen in ein ergossenes Fluidum, seinen Buchstaben
in einen Geist, der zwischen den Zeilen zu lesen ist. Erwägt man nun,
daß in der Poesie alle jene Momente sich nicht nur unendlich erwei-
tern, sondern daß noch das wirkliche Fortrücken, die Zeitform hinzu-
kommt, so kann kein Zweifel sein, daß eine so geistig bewegte Kunst die
Würze des Umwegs durch das Indirecte dem geraden Wege des Schönen
vorzieht. Hier wird der Strahl der Schönheit aus einer Gährung auf-
blitzen, in welcher die reine Schönheitslinie nicht gefordert ist, der Gott
wird seine Marmorschönheit opfern und wenn tiefe Seelen-Conflicte seine
Gestalt zerfurchen, so wird das klar gesprochene Wort diese Furchen deuten.
Der Einzelne wird Glied in der Kette einer Handlung mit weitem, Natur
und Geschichte umfassendem Horizonte werden, der Stempel des tief und
allseitig Durcharbeiteten wird sich daher seiner Erscheinung aufdrücken, wie
sie vor unserem innern Auge vorüberzieht. Trotzdem wird das Prinzip der
directen Idealisirung von dem der indirecten in der Poesie nicht nur nicht
schlechthin unterdrückt sein, wie ja dieß auch in der Malerei nicht der Fall
ist (vergl. §. 657), sondern es wird unter der Herrschaft desselben noch ein
ungleich größeres Recht fortbehaupten, als in dieser Kunst. Zum Beweise
ziehen wir aus der Geschichte beider Künste die einfache Thatsache herbei,
daß Homer unzweifelhaft ganz Dichter ist, während der Malerei der Alten
spezifische Eigenschaften fehlen, welche zum vollen Begriffe dieser Kunst
gehören. Das Stylprinzip in beiden ist hier das direct ideale, die Malerei
aber leidet darunter, die Poesie nicht. Hätte jene das Helldunkel, die
Dimension der Tiefe, die figurenreichere Composition und die Vielseitigkeit
des Ausdrucks entwickelt, wie das innere Wesen der Malerei dahin drängt,

Vischer's Aesthetik. 4. Band. 77

Das Häßliche iſt, wie wir geſehen haben, da, wo alle Kunſtmittel
vorhanden ſind, es aufzulöſen, nicht blos zugelaſſen, ſondern es wird her-
beigerufen, die Kunſt muß es wollen. Das Häßliche iſt nur die Spitze
einer Formenwelt, welche in ihren niedrigeren Graden blos abweichend vom
rein entwickelten Normaltypus einer Gattung, unregelmäßig u. ſ. w. genannt
wird. Es geht nun in der Poeſie der Zug der Auffaſſungsweiſe nothwen-
dig dahin, daß nicht die einzelne Geſtalt im Sinne des Normaltypus ſchön
ſei, ſondern das Schöne aus einer Geſammtwirkung entſpringe, worin mehr
oder minder unregelmäßige, vom Maaßſtab ihrer Gattung mit mehr oder
minder Eigenheit bis zur Empörung des Häßlichen abweichende Erſcheinungen
zuſammentreten. Der Grund davon iſt zunächſt ebenderſelbe wie in der
Malerei: die Mitaufnahme des die Hauptgeſtalten Umgebenden, die über-
leitende, dämpfende Farbe, die freie Einführung einer Vielheit von Geſtalten,
das Vorwiegen des Ausdrucks über die Form: alles dieß zieht ſo zu ſagen
an der einzelnen Geſtalt, lockert die Selbſtändigkeit der äſthetiſchen Geltung,
auf, die ihr in der Götterbildenden Plaſtik zukommt, und verändert den
feſten Körper des Schönen in ein ergoſſenes Fluidum, ſeinen Buchſtaben
in einen Geiſt, der zwiſchen den Zeilen zu leſen iſt. Erwägt man nun,
daß in der Poeſie alle jene Momente ſich nicht nur unendlich erwei-
tern, ſondern daß noch das wirkliche Fortrücken, die Zeitform hinzu-
kommt, ſo kann kein Zweifel ſein, daß eine ſo geiſtig bewegte Kunſt die
Würze des Umwegs durch das Indirecte dem geraden Wege des Schönen
vorzieht. Hier wird der Strahl der Schönheit aus einer Gährung auf-
blitzen, in welcher die reine Schönheitslinie nicht gefordert iſt, der Gott
wird ſeine Marmorſchönheit opfern und wenn tiefe Seelen-Conflicte ſeine
Geſtalt zerfurchen, ſo wird das klar geſprochene Wort dieſe Furchen deuten.
Der Einzelne wird Glied in der Kette einer Handlung mit weitem, Natur
und Geſchichte umfaſſendem Horizonte werden, der Stempel des tief und
allſeitig Durcharbeiteten wird ſich daher ſeiner Erſcheinung aufdrücken, wie
ſie vor unſerem innern Auge vorüberzieht. Trotzdem wird das Prinzip der
directen Idealiſirung von dem der indirecten in der Poeſie nicht nur nicht
ſchlechthin unterdrückt ſein, wie ja dieß auch in der Malerei nicht der Fall
iſt (vergl. §. 657), ſondern es wird unter der Herrſchaft deſſelben noch ein
ungleich größeres Recht fortbehaupten, als in dieſer Kunſt. Zum Beweiſe
ziehen wir aus der Geſchichte beider Künſte die einfache Thatſache herbei,
daß Homer unzweifelhaft ganz Dichter iſt, während der Malerei der Alten
ſpezifiſche Eigenſchaften fehlen, welche zum vollen Begriffe dieſer Kunſt
gehören. Das Stylprinzip in beiden iſt hier das direct ideale, die Malerei
aber leidet darunter, die Poeſie nicht. Hätte jene das Helldunkel, die
Dimenſion der Tiefe, die figurenreichere Compoſition und die Vielſeitigkeit
des Ausdrucks entwickelt, wie das innere Weſen der Malerei dahin drängt,

Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 77
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0055" n="1191"/>
              <p> <hi rendition="#et">Das Häßliche i&#x017F;t, wie wir ge&#x017F;ehen haben, da, wo alle Kun&#x017F;tmittel<lb/>
vorhanden &#x017F;ind, es aufzulö&#x017F;en, nicht blos zugela&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ondern es wird her-<lb/>
beigerufen, die Kun&#x017F;t muß es wollen. Das Häßliche i&#x017F;t nur die Spitze<lb/>
einer Formenwelt, welche in ihren niedrigeren Graden blos abweichend vom<lb/>
rein entwickelten Normaltypus einer Gattung, unregelmäßig u. &#x017F;. w. genannt<lb/>
wird. Es geht nun in der Poe&#x017F;ie der Zug der Auffa&#x017F;&#x017F;ungswei&#x017F;e nothwen-<lb/>
dig dahin, daß nicht die einzelne Ge&#x017F;talt im Sinne des Normaltypus &#x017F;chön<lb/>
&#x017F;ei, &#x017F;ondern das Schöne aus einer Ge&#x017F;ammtwirkung ent&#x017F;pringe, worin mehr<lb/>
oder minder unregelmäßige, vom Maaß&#x017F;tab ihrer Gattung mit mehr oder<lb/>
minder Eigenheit bis zur Empörung des Häßlichen abweichende Er&#x017F;cheinungen<lb/>
zu&#x017F;ammentreten. Der Grund davon i&#x017F;t zunäch&#x017F;t ebender&#x017F;elbe wie in der<lb/>
Malerei: die Mitaufnahme des die Hauptge&#x017F;talten Umgebenden, die über-<lb/>
leitende, dämpfende Farbe, die freie Einführung einer Vielheit von Ge&#x017F;talten,<lb/>
das Vorwiegen des Ausdrucks über die Form: alles dieß zieht &#x017F;o zu &#x017F;agen<lb/>
an der einzelnen Ge&#x017F;talt, lockert die Selb&#x017F;tändigkeit der ä&#x017F;theti&#x017F;chen Geltung,<lb/>
auf, die ihr in der Götterbildenden Pla&#x017F;tik zukommt, und verändert den<lb/>
fe&#x017F;ten Körper des Schönen in ein ergo&#x017F;&#x017F;enes Fluidum, &#x017F;einen Buch&#x017F;taben<lb/>
in einen Gei&#x017F;t, der zwi&#x017F;chen den Zeilen zu le&#x017F;en i&#x017F;t. Erwägt man nun,<lb/>
daß in der Poe&#x017F;ie alle jene Momente &#x017F;ich nicht nur unendlich erwei-<lb/>
tern, &#x017F;ondern daß noch das wirkliche Fortrücken, die Zeitform hinzu-<lb/>
kommt, &#x017F;o kann kein Zweifel &#x017F;ein, daß eine &#x017F;o gei&#x017F;tig bewegte Kun&#x017F;t die<lb/>
Würze des Umwegs durch das Indirecte dem geraden Wege des Schönen<lb/>
vorzieht. Hier wird der Strahl der Schönheit aus einer Gährung auf-<lb/>
blitzen, in welcher die reine Schönheitslinie nicht gefordert i&#x017F;t, der Gott<lb/>
wird &#x017F;eine Marmor&#x017F;chönheit opfern und wenn tiefe Seelen-Conflicte &#x017F;eine<lb/>
Ge&#x017F;talt zerfurchen, &#x017F;o wird das klar ge&#x017F;prochene Wort die&#x017F;e Furchen deuten.<lb/>
Der Einzelne wird Glied in der Kette einer Handlung mit weitem, Natur<lb/>
und Ge&#x017F;chichte umfa&#x017F;&#x017F;endem Horizonte werden, der Stempel des tief und<lb/>
all&#x017F;eitig Durcharbeiteten wird &#x017F;ich daher &#x017F;einer Er&#x017F;cheinung aufdrücken, wie<lb/>
&#x017F;ie vor un&#x017F;erem innern Auge vorüberzieht. Trotzdem wird das Prinzip der<lb/>
directen Ideali&#x017F;irung von dem der indirecten in der Poe&#x017F;ie nicht nur nicht<lb/>
&#x017F;chlechthin unterdrückt &#x017F;ein, wie ja dieß auch in der Malerei nicht der Fall<lb/>
i&#x017F;t (vergl. §. 657), &#x017F;ondern es wird unter der Herr&#x017F;chaft de&#x017F;&#x017F;elben noch ein<lb/>
ungleich größeres Recht fortbehaupten, als in die&#x017F;er Kun&#x017F;t. Zum Bewei&#x017F;e<lb/>
ziehen wir aus der Ge&#x017F;chichte beider Kün&#x017F;te die einfache That&#x017F;ache herbei,<lb/>
daß Homer unzweifelhaft ganz Dichter i&#x017F;t, während der Malerei der Alten<lb/>
&#x017F;pezifi&#x017F;che Eigen&#x017F;chaften fehlen, welche zum vollen Begriffe die&#x017F;er Kun&#x017F;t<lb/>
gehören. Das Stylprinzip in beiden i&#x017F;t hier das direct ideale, die Malerei<lb/>
aber leidet darunter, die Poe&#x017F;ie nicht. Hätte jene das Helldunkel, die<lb/>
Dimen&#x017F;ion der Tiefe, die figurenreichere Compo&#x017F;ition und die Viel&#x017F;eitigkeit<lb/>
des Ausdrucks entwickelt, wie das innere We&#x017F;en der Malerei dahin drängt,</hi><lb/>
                <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Vi&#x017F;cher&#x2019;s</hi> Ae&#x017F;thetik. 4. Band. 77</fw><lb/>
              </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1191/0055] Das Häßliche iſt, wie wir geſehen haben, da, wo alle Kunſtmittel vorhanden ſind, es aufzulöſen, nicht blos zugelaſſen, ſondern es wird her- beigerufen, die Kunſt muß es wollen. Das Häßliche iſt nur die Spitze einer Formenwelt, welche in ihren niedrigeren Graden blos abweichend vom rein entwickelten Normaltypus einer Gattung, unregelmäßig u. ſ. w. genannt wird. Es geht nun in der Poeſie der Zug der Auffaſſungsweiſe nothwen- dig dahin, daß nicht die einzelne Geſtalt im Sinne des Normaltypus ſchön ſei, ſondern das Schöne aus einer Geſammtwirkung entſpringe, worin mehr oder minder unregelmäßige, vom Maaßſtab ihrer Gattung mit mehr oder minder Eigenheit bis zur Empörung des Häßlichen abweichende Erſcheinungen zuſammentreten. Der Grund davon iſt zunächſt ebenderſelbe wie in der Malerei: die Mitaufnahme des die Hauptgeſtalten Umgebenden, die über- leitende, dämpfende Farbe, die freie Einführung einer Vielheit von Geſtalten, das Vorwiegen des Ausdrucks über die Form: alles dieß zieht ſo zu ſagen an der einzelnen Geſtalt, lockert die Selbſtändigkeit der äſthetiſchen Geltung, auf, die ihr in der Götterbildenden Plaſtik zukommt, und verändert den feſten Körper des Schönen in ein ergoſſenes Fluidum, ſeinen Buchſtaben in einen Geiſt, der zwiſchen den Zeilen zu leſen iſt. Erwägt man nun, daß in der Poeſie alle jene Momente ſich nicht nur unendlich erwei- tern, ſondern daß noch das wirkliche Fortrücken, die Zeitform hinzu- kommt, ſo kann kein Zweifel ſein, daß eine ſo geiſtig bewegte Kunſt die Würze des Umwegs durch das Indirecte dem geraden Wege des Schönen vorzieht. Hier wird der Strahl der Schönheit aus einer Gährung auf- blitzen, in welcher die reine Schönheitslinie nicht gefordert iſt, der Gott wird ſeine Marmorſchönheit opfern und wenn tiefe Seelen-Conflicte ſeine Geſtalt zerfurchen, ſo wird das klar geſprochene Wort dieſe Furchen deuten. Der Einzelne wird Glied in der Kette einer Handlung mit weitem, Natur und Geſchichte umfaſſendem Horizonte werden, der Stempel des tief und allſeitig Durcharbeiteten wird ſich daher ſeiner Erſcheinung aufdrücken, wie ſie vor unſerem innern Auge vorüberzieht. Trotzdem wird das Prinzip der directen Idealiſirung von dem der indirecten in der Poeſie nicht nur nicht ſchlechthin unterdrückt ſein, wie ja dieß auch in der Malerei nicht der Fall iſt (vergl. §. 657), ſondern es wird unter der Herrſchaft deſſelben noch ein ungleich größeres Recht fortbehaupten, als in dieſer Kunſt. Zum Beweiſe ziehen wir aus der Geſchichte beider Künſte die einfache Thatſache herbei, daß Homer unzweifelhaft ganz Dichter iſt, während der Malerei der Alten ſpezifiſche Eigenſchaften fehlen, welche zum vollen Begriffe dieſer Kunſt gehören. Das Stylprinzip in beiden iſt hier das direct ideale, die Malerei aber leidet darunter, die Poeſie nicht. Hätte jene das Helldunkel, die Dimenſion der Tiefe, die figurenreichere Compoſition und die Vielſeitigkeit des Ausdrucks entwickelt, wie das innere Weſen der Malerei dahin drängt, Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 77

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/55
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/55>, abgerufen am 23.04.2024.