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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

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Rosenwolke kränzte das Haupt des Pilatus. Ich ver¬
gaß das halb ärgerliche, halb lächerliche Abenteuer des
Reisetags zugleich mit allen Dornen und Nesseln der
menschlichen Lebensreise. Am andern Morgen fuhr ich
mit dem Dampfer ab, der nach Flüelen führte; meine
Absicht war, den herrlichen See in seiner Ausdehnung
zu beschauen, dann weiter zu Fuß bis zur Teufels¬
brücke oder bis Andermatt zu gehen, um ruhig die
vielgepriesene wilde Schönheit des Gotthardpasses zu
betrachten. Halb und halb gedachte ich, schon in
Brunnen auszusteigen und auf der kürzlich vollendeten
Axenstraße nach Flüelen zu wandern. Eine der Sta¬
tionen des Dampfschiffes ist, wie Jeder weiß, der den
See befahren oder seinen Bädeker studirt hat, Weggis
am rechten Ufer. Ich stand am Geländer und sah
zu, wie die Einen aus-, die Andern einstiegen. Da
gewahrte ich unter den Letzteren meinen Mann, den
Mann der Tragödie von gestern. Er sah heute
ungleich heiterer aus; mit rüstigen Schritten betrat
er das Verdeck und grüßte mich ganz unbefangen, als
er mir von ungefähr in's Gesicht sah und den Mit¬
reisenden vom vorigen Tag erkannte. Dieß ermuthigte
mich, ihn zu fragen, woher er komme. "Vom Rigi
herunter," war die Antwort. "Wie? in der kurzen
Zeit?" -- "Will nicht viel heißen; gestern Abend hinauf,
in der schönen Mondnacht herunter." -- "Wie war's?
Schön, nicht wahr? Es war ja ein prächtiger Abend."

Roſenwolke kränzte das Haupt des Pilatus. Ich ver¬
gaß das halb ärgerliche, halb lächerliche Abenteuer des
Reiſetags zugleich mit allen Dornen und Neſſeln der
menſchlichen Lebensreiſe. Am andern Morgen fuhr ich
mit dem Dampfer ab, der nach Flüelen führte; meine
Abſicht war, den herrlichen See in ſeiner Ausdehnung
zu beſchauen, dann weiter zu Fuß bis zur Teufels¬
brücke oder bis Andermatt zu gehen, um ruhig die
vielgeprieſene wilde Schönheit des Gotthardpaſſes zu
betrachten. Halb und halb gedachte ich, ſchon in
Brunnen auszuſteigen und auf der kürzlich vollendeten
Axenſtraße nach Flüelen zu wandern. Eine der Sta¬
tionen des Dampfſchiffes iſt, wie Jeder weiß, der den
See befahren oder ſeinen Bädeker ſtudirt hat, Weggis
am rechten Ufer. Ich ſtand am Geländer und ſah
zu, wie die Einen aus-, die Andern einſtiegen. Da
gewahrte ich unter den Letzteren meinen Mann, den
Mann der Tragödie von geſtern. Er ſah heute
ungleich heiterer aus; mit rüſtigen Schritten betrat
er das Verdeck und grüßte mich ganz unbefangen, als
er mir von ungefähr in's Geſicht ſah und den Mit¬
reiſenden vom vorigen Tag erkannte. Dieß ermuthigte
mich, ihn zu fragen, woher er komme. „Vom Rigi
herunter,“ war die Antwort. „Wie? in der kurzen
Zeit?“ — „Will nicht viel heißen; geſtern Abend hinauf,
in der ſchönen Mondnacht herunter.“ — „Wie war's?
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[7/0020] Roſenwolke kränzte das Haupt des Pilatus. Ich ver¬ gaß das halb ärgerliche, halb lächerliche Abenteuer des Reiſetags zugleich mit allen Dornen und Neſſeln der menſchlichen Lebensreiſe. Am andern Morgen fuhr ich mit dem Dampfer ab, der nach Flüelen führte; meine Abſicht war, den herrlichen See in ſeiner Ausdehnung zu beſchauen, dann weiter zu Fuß bis zur Teufels¬ brücke oder bis Andermatt zu gehen, um ruhig die vielgeprieſene wilde Schönheit des Gotthardpaſſes zu betrachten. Halb und halb gedachte ich, ſchon in Brunnen auszuſteigen und auf der kürzlich vollendeten Axenſtraße nach Flüelen zu wandern. Eine der Sta¬ tionen des Dampfſchiffes iſt, wie Jeder weiß, der den See befahren oder ſeinen Bädeker ſtudirt hat, Weggis am rechten Ufer. Ich ſtand am Geländer und ſah zu, wie die Einen aus-, die Andern einſtiegen. Da gewahrte ich unter den Letzteren meinen Mann, den Mann der Tragödie von geſtern. Er ſah heute ungleich heiterer aus; mit rüſtigen Schritten betrat er das Verdeck und grüßte mich ganz unbefangen, als er mir von ungefähr in's Geſicht ſah und den Mit¬ reiſenden vom vorigen Tag erkannte. Dieß ermuthigte mich, ihn zu fragen, woher er komme. „Vom Rigi herunter,“ war die Antwort. „Wie? in der kurzen Zeit?“ — „Will nicht viel heißen; geſtern Abend hinauf, in der ſchönen Mondnacht herunter.“ — „Wie war's? Schön, nicht wahr? Es war ja ein prächtiger Abend.“

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/20>, abgerufen am 29.03.2024.