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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

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denn doch krank. Was konnte dahinter stecken? Hatte
ihm unser Abenteuer in den Schöllenen den Gedanken
des Selbstmords, der ja unheimlich genug aus seinem
Selbstgespräch am schauerlichen Felsrand hervorblitzte,
noch nicht ausgeheilt? Wollte er allein wandeln, um
frei dem Todesgedanken nachzugehen und ungestört,
wenn er reif wäre, ihn zur That zu machen? Bei
dieser Betrachtung überkam mich wieder das Mitleid,
jenes Mitleid, das mich einst zum halsbrecherischen
Kletterwagniß getrieben, das mir beim Abschied die
Thräne ausgepreßt hatte. Und nun ward mir der
Inhalt der Pfahldorfgeschichte zu einer Quelle neuer
herzlicher Rührung. Ich zog sie wieder hervor und
vertiefte mich so recht rein pathologisch in das durch¬
gehende Motiv: die wunderliche Erfindung einer Religion,
einer Mythologie, worin sich Alles um den Katarrh
dreht. Doch wurde durch ein Gefühl anderer Art
dem Mitleid das Gleichgewicht gehalten: der Arme,
der mit diesem lästigen Leiden so fatal verwachsen war,
daß sein Gedankenleben sich gewöhnt hatte, sich halb¬
wahnsinnig um diesen Einen und verwandte Punkte
zu drehen: er hatte es ja doch vermocht, sich so seiner
selbst zu entäußern, daß der Krankheitsstoff als gegen¬
ständliches Bild humoristisch ausgeschieden wurde. Das
war denn wirklich kein geringer Akt geistiger Freiheit.
Immerhin komisch war mir allerdings die Stelle in
Arthur's Feuerrede, wo so manches Böse doch als Aus¬

denn doch krank. Was konnte dahinter ſtecken? Hatte
ihm unſer Abenteuer in den Schöllenen den Gedanken
des Selbſtmords, der ja unheimlich genug aus ſeinem
Selbſtgeſpräch am ſchauerlichen Felsrand hervorblitzte,
noch nicht ausgeheilt? Wollte er allein wandeln, um
frei dem Todesgedanken nachzugehen und ungeſtört,
wenn er reif wäre, ihn zur That zu machen? Bei
dieſer Betrachtung überkam mich wieder das Mitleid,
jenes Mitleid, das mich einſt zum halsbrecheriſchen
Kletterwagniß getrieben, das mir beim Abſchied die
Thräne ausgepreßt hatte. Und nun ward mir der
Inhalt der Pfahldorfgeſchichte zu einer Quelle neuer
herzlicher Rührung. Ich zog ſie wieder hervor und
vertiefte mich ſo recht rein pathologiſch in das durch¬
gehende Motiv: die wunderliche Erfindung einer Religion,
einer Mythologie, worin ſich Alles um den Katarrh
dreht. Doch wurde durch ein Gefühl anderer Art
dem Mitleid das Gleichgewicht gehalten: der Arme,
der mit dieſem läſtigen Leiden ſo fatal verwachſen war,
daß ſein Gedankenleben ſich gewöhnt hatte, ſich halb¬
wahnſinnig um dieſen Einen und verwandte Punkte
zu drehen: er hatte es ja doch vermocht, ſich ſo ſeiner
ſelbſt zu entäußern, daß der Krankheitsſtoff als gegen¬
ſtändliches Bild humoriſtiſch ausgeſchieden wurde. Das
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[4/0017] denn doch krank. Was konnte dahinter ſtecken? Hatte ihm unſer Abenteuer in den Schöllenen den Gedanken des Selbſtmords, der ja unheimlich genug aus ſeinem Selbſtgeſpräch am ſchauerlichen Felsrand hervorblitzte, noch nicht ausgeheilt? Wollte er allein wandeln, um frei dem Todesgedanken nachzugehen und ungeſtört, wenn er reif wäre, ihn zur That zu machen? Bei dieſer Betrachtung überkam mich wieder das Mitleid, jenes Mitleid, das mich einſt zum halsbrecheriſchen Kletterwagniß getrieben, das mir beim Abſchied die Thräne ausgepreßt hatte. Und nun ward mir der Inhalt der Pfahldorfgeſchichte zu einer Quelle neuer herzlicher Rührung. Ich zog ſie wieder hervor und vertiefte mich ſo recht rein pathologiſch in das durch¬ gehende Motiv: die wunderliche Erfindung einer Religion, einer Mythologie, worin ſich Alles um den Katarrh dreht. Doch wurde durch ein Gefühl anderer Art dem Mitleid das Gleichgewicht gehalten: der Arme, der mit dieſem läſtigen Leiden ſo fatal verwachſen war, daß ſein Gedankenleben ſich gewöhnt hatte, ſich halb¬ wahnſinnig um dieſen Einen und verwandte Punkte zu drehen: er hatte es ja doch vermocht, ſich ſo ſeiner ſelbſt zu entäußern, daß der Krankheitsſtoff als gegen¬ ſtändliches Bild humoriſtiſch ausgeſchieden wurde. Das war denn wirklich kein geringer Akt geiſtiger Freiheit. Immerhin komiſch war mir allerdings die Stelle in Arthur's Feuerrede, wo ſo manches Böſe doch als Aus¬

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/17>, abgerufen am 25.04.2024.