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Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1851.

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die späteren Classifikatoren. Man stellte unter stets größer werdenden
Gruppen und Abtheilungen die durch gewisse Charaktere mit einander
übereinstimmenden Arten und Gattungen zusammen, um endlich bis zu
wenigen großen Kreisen zu gelangen, welche die einzelnen Genustypen
umfaßten, so daß das ganze System füglich mit einem Gebäude ver-
glichen werden kann, in dem man einzelne Stockwerke, Wohnungen,
Säle, Zimmer bis zu den Fachwerken an den Wänden unterscheidet.
Wie viele öde Registratoren der Wissenschaft gab es, die ihr Leben
damit zubrachten, den einzelnen Aktenbündeln ihre Ueberschrift zu geben
und sie aus diesem oder jenem Gefache in ein anderes hinüber zu
tragen!

Die Grundlage auf welcher das ganze Gebäude der Systematik
beruht, ist die feste Bestimmung des Begriffes der Art (Species). Giebt es
wirklich ein ideales Wesen, Art genannt, dem wir feste und unab-
änderliche Charaktere zuschreiben können, oder haben wir es nur mit
einzelnen Individuen zu thun, deren Charaktere durch die äußeren Um-
stände bedingt und so weit modificirt werden können, daß es zweifel-
haft wird, ob sie noch derselben Art angehören?

So weit wir jetzt blicken können, so müssen wir den Begriff der
Art dahin bestimmen, daß zu derselben Art alle Individuen gehören,
welche von gleichen Eltern abstammen und im Verlaufe ihrer Ent-
wickelung, entweder selbst oder durch ihre Descendenten den Stamm-
ältern ähnlich werden. Zur Feststellung der Charaktere, welche einer
Art eigenthümlich sind, würde also stets die Beobachtung ihrer Ab-
stammung gehören und man würde bei einem einzelnen Thier, dessen
Leiche oder versteinerte Reste man nur in die Hand bekäme, niemals
entscheiden können, ob es einer andern Art angehört. In der That
hat auch die Wissenschaft schon eine unzählige Menge von Irrthümern
ausgemerzt, welche aus vereinzelten Beobachtungen entstanden sind,
und täglich dienen weiter greifende Beobachtungen dazu, Thiere, die
man weit verschieden glaubte, als zu derselben Art gehörig anzuer-
kennen, oder andere zu trennen, die man früher vereinigt hatte. Nie-
mand wohl würde die Raupe oder den Schmetterling, die beide so
unendlich in ihrer äußeren Gestalt wie in ihrer inneren Organisation
verschieden sind, für dasselbe Wesen halten, wenn es nicht jedem Kinde
bekannt wäre, daß die Raupe sich in eine Puppe und diese wieder in
einen Schmetterling verwandelt. Die Beobachtung ist aber nicht überall
so leicht, wie in dem angeführten Falle. Wir könnten hunderte von
Beispielen anführen, wo es jahrelanger, mit der größten Ausdauer
fortgeführter Beobachtungen bedurfte, um darzuthun, daß dieses oder

die ſpäteren Claſſifikatoren. Man ſtellte unter ſtets größer werdenden
Gruppen und Abtheilungen die durch gewiſſe Charaktere mit einander
übereinſtimmenden Arten und Gattungen zuſammen, um endlich bis zu
wenigen großen Kreiſen zu gelangen, welche die einzelnen Genustypen
umfaßten, ſo daß das ganze Syſtem füglich mit einem Gebäude ver-
glichen werden kann, in dem man einzelne Stockwerke, Wohnungen,
Säle, Zimmer bis zu den Fachwerken an den Wänden unterſcheidet.
Wie viele öde Regiſtratoren der Wiſſenſchaft gab es, die ihr Leben
damit zubrachten, den einzelnen Aktenbündeln ihre Ueberſchrift zu geben
und ſie aus dieſem oder jenem Gefache in ein anderes hinüber zu
tragen!

Die Grundlage auf welcher das ganze Gebäude der Syſtematik
beruht, iſt die feſte Beſtimmung des Begriffes der Art (Species). Giebt es
wirklich ein ideales Weſen, Art genannt, dem wir feſte und unab-
änderliche Charaktere zuſchreiben können, oder haben wir es nur mit
einzelnen Individuen zu thun, deren Charaktere durch die äußeren Um-
ſtände bedingt und ſo weit modificirt werden können, daß es zweifel-
haft wird, ob ſie noch derſelben Art angehören?

So weit wir jetzt blicken können, ſo müſſen wir den Begriff der
Art dahin beſtimmen, daß zu derſelben Art alle Individuen gehören,
welche von gleichen Eltern abſtammen und im Verlaufe ihrer Ent-
wickelung, entweder ſelbſt oder durch ihre Descendenten den Stamm-
ältern ähnlich werden. Zur Feſtſtellung der Charaktere, welche einer
Art eigenthümlich ſind, würde alſo ſtets die Beobachtung ihrer Ab-
ſtammung gehören und man würde bei einem einzelnen Thier, deſſen
Leiche oder verſteinerte Reſte man nur in die Hand bekäme, niemals
entſcheiden können, ob es einer andern Art angehört. In der That
hat auch die Wiſſenſchaft ſchon eine unzählige Menge von Irrthümern
ausgemerzt, welche aus vereinzelten Beobachtungen entſtanden ſind,
und täglich dienen weiter greifende Beobachtungen dazu, Thiere, die
man weit verſchieden glaubte, als zu derſelben Art gehörig anzuer-
kennen, oder andere zu trennen, die man früher vereinigt hatte. Nie-
mand wohl würde die Raupe oder den Schmetterling, die beide ſo
unendlich in ihrer äußeren Geſtalt wie in ihrer inneren Organiſation
verſchieden ſind, für daſſelbe Weſen halten, wenn es nicht jedem Kinde
bekannt wäre, daß die Raupe ſich in eine Puppe und dieſe wieder in
einen Schmetterling verwandelt. Die Beobachtung iſt aber nicht überall
ſo leicht, wie in dem angeführten Falle. Wir könnten hunderte von
Beiſpielen anführen, wo es jahrelanger, mit der größten Ausdauer
fortgeführter Beobachtungen bedurfte, um darzuthun, daß dieſes oder

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[20/0026] die ſpäteren Claſſifikatoren. Man ſtellte unter ſtets größer werdenden Gruppen und Abtheilungen die durch gewiſſe Charaktere mit einander übereinſtimmenden Arten und Gattungen zuſammen, um endlich bis zu wenigen großen Kreiſen zu gelangen, welche die einzelnen Genustypen umfaßten, ſo daß das ganze Syſtem füglich mit einem Gebäude ver- glichen werden kann, in dem man einzelne Stockwerke, Wohnungen, Säle, Zimmer bis zu den Fachwerken an den Wänden unterſcheidet. Wie viele öde Regiſtratoren der Wiſſenſchaft gab es, die ihr Leben damit zubrachten, den einzelnen Aktenbündeln ihre Ueberſchrift zu geben und ſie aus dieſem oder jenem Gefache in ein anderes hinüber zu tragen! Die Grundlage auf welcher das ganze Gebäude der Syſtematik beruht, iſt die feſte Beſtimmung des Begriffes der Art (Species). Giebt es wirklich ein ideales Weſen, Art genannt, dem wir feſte und unab- änderliche Charaktere zuſchreiben können, oder haben wir es nur mit einzelnen Individuen zu thun, deren Charaktere durch die äußeren Um- ſtände bedingt und ſo weit modificirt werden können, daß es zweifel- haft wird, ob ſie noch derſelben Art angehören? So weit wir jetzt blicken können, ſo müſſen wir den Begriff der Art dahin beſtimmen, daß zu derſelben Art alle Individuen gehören, welche von gleichen Eltern abſtammen und im Verlaufe ihrer Ent- wickelung, entweder ſelbſt oder durch ihre Descendenten den Stamm- ältern ähnlich werden. Zur Feſtſtellung der Charaktere, welche einer Art eigenthümlich ſind, würde alſo ſtets die Beobachtung ihrer Ab- ſtammung gehören und man würde bei einem einzelnen Thier, deſſen Leiche oder verſteinerte Reſte man nur in die Hand bekäme, niemals entſcheiden können, ob es einer andern Art angehört. In der That hat auch die Wiſſenſchaft ſchon eine unzählige Menge von Irrthümern ausgemerzt, welche aus vereinzelten Beobachtungen entſtanden ſind, und täglich dienen weiter greifende Beobachtungen dazu, Thiere, die man weit verſchieden glaubte, als zu derſelben Art gehörig anzuer- kennen, oder andere zu trennen, die man früher vereinigt hatte. Nie- mand wohl würde die Raupe oder den Schmetterling, die beide ſo unendlich in ihrer äußeren Geſtalt wie in ihrer inneren Organiſation verſchieden ſind, für daſſelbe Weſen halten, wenn es nicht jedem Kinde bekannt wäre, daß die Raupe ſich in eine Puppe und dieſe wieder in einen Schmetterling verwandelt. Die Beobachtung iſt aber nicht überall ſo leicht, wie in dem angeführten Falle. Wir könnten hunderte von Beiſpielen anführen, wo es jahrelanger, mit der größten Ausdauer fortgeführter Beobachtungen bedurfte, um darzuthun, daß dieſes oder

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Zitationshilfe: Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1851, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_briefe01_1851/26>, abgerufen am 28.03.2024.