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Walter, Marie: Das Frauenstimmrecht. Zürich, 1913.

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Frau hinausgeführt in das große weite Haus der Welt. Hier
waltet und wirkt sie mit ihrer Hände Arbeit und ihres Geistes
und Gemütes Kraft in Fabrik und Werkstatt, im Bureau und
Laden, in der Schule, im Krankenhaus, für das Wohl der Gesell-
schaft, für das Gedeihen der Allgemeinheit. Die Arbeit, die Tätig-
keit, bildet wie beim Manne die Grundlage ihrer Existenz und
verschafft ihr mit der Pflicht das Recht zur Verteidigung ihrer
Lebensinteressen. Erscheint es da nicht selbstverständlich, daß
gleiche Pflichten gleiche Rechte bedingen? Jst die Frau wie der
Mann der Arbeit verpflichtet, dann soll sie auch als Gleichberech-
tigte neben ihm stehen. Soll sie arbeiten, erwerbstätig sein in der
Gemeinde, im Staat, in der Gesellschaft, dann lasse man sie auch
mithaushalten in dem großen Weltenhause. Man gebe ihr per-
sönliche, wirtschaftliche und politische Rechte wie dem Manne.
Denn dadurch, daß die Frauen in der gesellschaftlichen Produktion
tätig sind, ist ihre Existenzsicherheit nicht mehr eine wie früher
durch den Hausfleiß gegebene. Jhr persönliches Dasein hängt von
der Außenwelt, der Gesellschaft ab; es verknüpft sich mit den so-
zialen Einrichtungen und Erscheinungen. Der Besitz politischer
Rechte zur Wahrung der persönlichen Jnteressen wird für die
Frau eine Lebensnotwendigkeit wie für den Mann.

Hinzu tritt noch ein weiteres Moment. Die wirtschaftliche
Gleichberechtigung mit dem Manne verhilft der Frau zur ökono-
mischen Unabhängigkeit von ihm und der Familie und erweckt in ihr
die Erkenntnis ihres Eigenwertes, ihrer selbständigen Persönlich-
keit. Erst jetzt wird sie sich ihrer hohen Naturbestimmung als
Weib bewußt. Jhre hausfraulichen und mütterlichen Funktionen
erscheinen ihr nicht mehr als Privatleistungen im Dienste des
Mannes: Sie wachsen empor zu ihren höchsten Pflichtleistungen
gegenüber dem Staate, gegenüber der Menschheit. Unter dem Ge-
sichtswinkel dieser Einwertung empfindet sie die soziale und po-
litische Vormundschaft des Mannes als ein gewaltiges Unrecht,
als eine schwer lastende Kette, welche die eigene Rechtlosigkeit ihr
geschmiedet. Die Forderung des Stimmrechts bedeutet daher die
mit Hilfe des Gesetzes zu erreichende Mündigkeitserklärung der
Frauen. Jn unsern Tagen verdichtet sich dieses Verlangen nach
der politischen Rechtsgleichheit der Geschlechter zu einem bewußten
Massenwillen, der mit siegreicher Kraft vorwärts stürmt.

Noch aber haben die Frauen einen Kreuzesweg zu gehen, den
sie seit mehr als einem Jahrhundert beschreiten und der sein
Ende bis heute nicht erreicht hat. Tränen und blutiger Schweiß
erzählen von der zurückgelegten Wegstrecke. Die Hungerlöhne der
Frauen und Kinder enthüllen ein Elendsbild stumm erlittener
Leibes- und Seelenqualen, aus dem mit grauenvollen Augen der
Alkoholismus und die Prostitution hervorglotzen, jene Pesthauch

Frau hinausgeführt in das große weite Haus der Welt. Hier
waltet und wirkt sie mit ihrer Hände Arbeit und ihres Geistes
und Gemütes Kraft in Fabrik und Werkstatt, im Bureau und
Laden, in der Schule, im Krankenhaus, für das Wohl der Gesell-
schaft, für das Gedeihen der Allgemeinheit. Die Arbeit, die Tätig-
keit, bildet wie beim Manne die Grundlage ihrer Existenz und
verschafft ihr mit der Pflicht das Recht zur Verteidigung ihrer
Lebensinteressen. Erscheint es da nicht selbstverständlich, daß
gleiche Pflichten gleiche Rechte bedingen? Jst die Frau wie der
Mann der Arbeit verpflichtet, dann soll sie auch als Gleichberech-
tigte neben ihm stehen. Soll sie arbeiten, erwerbstätig sein in der
Gemeinde, im Staat, in der Gesellschaft, dann lasse man sie auch
mithaushalten in dem großen Weltenhause. Man gebe ihr per-
sönliche, wirtschaftliche und politische Rechte wie dem Manne.
Denn dadurch, daß die Frauen in der gesellschaftlichen Produktion
tätig sind, ist ihre Existenzsicherheit nicht mehr eine wie früher
durch den Hausfleiß gegebene. Jhr persönliches Dasein hängt von
der Außenwelt, der Gesellschaft ab; es verknüpft sich mit den so-
zialen Einrichtungen und Erscheinungen. Der Besitz politischer
Rechte zur Wahrung der persönlichen Jnteressen wird für die
Frau eine Lebensnotwendigkeit wie für den Mann.

Hinzu tritt noch ein weiteres Moment. Die wirtschaftliche
Gleichberechtigung mit dem Manne verhilft der Frau zur ökono-
mischen Unabhängigkeit von ihm und der Familie und erweckt in ihr
die Erkenntnis ihres Eigenwertes, ihrer selbständigen Persönlich-
keit. Erst jetzt wird sie sich ihrer hohen Naturbestimmung als
Weib bewußt. Jhre hausfraulichen und mütterlichen Funktionen
erscheinen ihr nicht mehr als Privatleistungen im Dienste des
Mannes: Sie wachsen empor zu ihren höchsten Pflichtleistungen
gegenüber dem Staate, gegenüber der Menschheit. Unter dem Ge-
sichtswinkel dieser Einwertung empfindet sie die soziale und po-
litische Vormundschaft des Mannes als ein gewaltiges Unrecht,
als eine schwer lastende Kette, welche die eigene Rechtlosigkeit ihr
geschmiedet. Die Forderung des Stimmrechts bedeutet daher die
mit Hilfe des Gesetzes zu erreichende Mündigkeitserklärung der
Frauen. Jn unsern Tagen verdichtet sich dieses Verlangen nach
der politischen Rechtsgleichheit der Geschlechter zu einem bewußten
Massenwillen, der mit siegreicher Kraft vorwärts stürmt.

Noch aber haben die Frauen einen Kreuzesweg zu gehen, den
sie seit mehr als einem Jahrhundert beschreiten und der sein
Ende bis heute nicht erreicht hat. Tränen und blutiger Schweiß
erzählen von der zurückgelegten Wegstrecke. Die Hungerlöhne der
Frauen und Kinder enthüllen ein Elendsbild stumm erlittener
Leibes- und Seelenqualen, aus dem mit grauenvollen Augen der
Alkoholismus und die Prostitution hervorglotzen, jene Pesthauch

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[17/0017] Frau hinausgeführt in das große weite Haus der Welt. Hier waltet und wirkt sie mit ihrer Hände Arbeit und ihres Geistes und Gemütes Kraft in Fabrik und Werkstatt, im Bureau und Laden, in der Schule, im Krankenhaus, für das Wohl der Gesell- schaft, für das Gedeihen der Allgemeinheit. Die Arbeit, die Tätig- keit, bildet wie beim Manne die Grundlage ihrer Existenz und verschafft ihr mit der Pflicht das Recht zur Verteidigung ihrer Lebensinteressen. Erscheint es da nicht selbstverständlich, daß gleiche Pflichten gleiche Rechte bedingen? Jst die Frau wie der Mann der Arbeit verpflichtet, dann soll sie auch als Gleichberech- tigte neben ihm stehen. Soll sie arbeiten, erwerbstätig sein in der Gemeinde, im Staat, in der Gesellschaft, dann lasse man sie auch mithaushalten in dem großen Weltenhause. Man gebe ihr per- sönliche, wirtschaftliche und politische Rechte wie dem Manne. Denn dadurch, daß die Frauen in der gesellschaftlichen Produktion tätig sind, ist ihre Existenzsicherheit nicht mehr eine wie früher durch den Hausfleiß gegebene. Jhr persönliches Dasein hängt von der Außenwelt, der Gesellschaft ab; es verknüpft sich mit den so- zialen Einrichtungen und Erscheinungen. Der Besitz politischer Rechte zur Wahrung der persönlichen Jnteressen wird für die Frau eine Lebensnotwendigkeit wie für den Mann. Hinzu tritt noch ein weiteres Moment. Die wirtschaftliche Gleichberechtigung mit dem Manne verhilft der Frau zur ökono- mischen Unabhängigkeit von ihm und der Familie und erweckt in ihr die Erkenntnis ihres Eigenwertes, ihrer selbständigen Persönlich- keit. Erst jetzt wird sie sich ihrer hohen Naturbestimmung als Weib bewußt. Jhre hausfraulichen und mütterlichen Funktionen erscheinen ihr nicht mehr als Privatleistungen im Dienste des Mannes: Sie wachsen empor zu ihren höchsten Pflichtleistungen gegenüber dem Staate, gegenüber der Menschheit. Unter dem Ge- sichtswinkel dieser Einwertung empfindet sie die soziale und po- litische Vormundschaft des Mannes als ein gewaltiges Unrecht, als eine schwer lastende Kette, welche die eigene Rechtlosigkeit ihr geschmiedet. Die Forderung des Stimmrechts bedeutet daher die mit Hilfe des Gesetzes zu erreichende Mündigkeitserklärung der Frauen. Jn unsern Tagen verdichtet sich dieses Verlangen nach der politischen Rechtsgleichheit der Geschlechter zu einem bewußten Massenwillen, der mit siegreicher Kraft vorwärts stürmt. Noch aber haben die Frauen einen Kreuzesweg zu gehen, den sie seit mehr als einem Jahrhundert beschreiten und der sein Ende bis heute nicht erreicht hat. Tränen und blutiger Schweiß erzählen von der zurückgelegten Wegstrecke. Die Hungerlöhne der Frauen und Kinder enthüllen ein Elendsbild stumm erlittener Leibes- und Seelenqualen, aus dem mit grauenvollen Augen der Alkoholismus und die Prostitution hervorglotzen, jene Pesthauch

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2018-04-10T14:18:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-04-10T14:18:39Z)

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Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: gekennzeichnet; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




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Zitationshilfe: Walter, Marie: Das Frauenstimmrecht. Zürich, 1913, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/walter_frauenstimmrecht_1913/17>, abgerufen am 28.03.2024.