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Wander, Karl Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Bd. 1. Leipzig, 1867.

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sind, von dem Lexikon ausgeschlossen würden. Das Deutsche Sprichwörter-Lexikon soll aber auch ein Sprachschatz sein und musste daher seine Aufgabe allgemeiner fassen. Die Didaskalia (Frankfurt a. M. 1865, Nr. 24) deutet die Bedeutung desselben, wie für "die Sprachkunde, die reichen Stoff für ihre Interessen findet", ebenso für die Culturgeschichte, die Lebensanschauung und Symbolik, die Sitten, wie die grossen und kleinen Erlebnisse zunächst der deutschen Stämme, aber auch vieler andern, mit deren Sprichwörtern die deutschen verglichen werden, an; sie hebt hervor, wie die Aehnlichkeit derselben untereinander, die theils aus geschichtlicher Uebernahme, theils aus (dynamischer) Verwandtschaft der Anschauung entspringt, dort den (ethnographischen) Gang der Bildung von einem Volk zum andern, hier die geistige (psychologische) Verwandtschaft und zugleich die Verschiedenheit der einzelnen Volksstämme, in dem sie neben dem allgemein menschlichen Erbe auch die Besonderheit der einzelnen Glieder der Menschheit darstellt.

Wie verschieden auch bald das Gepräge, bald der Gehalt der Sprichwörter sein mag, ihre Entstehung ist im wesentlichen dieselbe. Irgendeine Bemerkung, ein Gedanke wird bei einem gewissen Anlass in volksthümlichem Ton ausgesprochen, wobei es gleichgültig ist, ob durch die Schreibfinger oder durch den Mund. Dieser Ausspruch hat das Glück, aus irgendeinem Grunde zu gefallen; er wird bei demselben oder einem ähnlichen Anlass wiederholt, gleichviel ob durch den Mund, durch die Schreibfinger oder den Pressbengel. Je häufiger dies geschieht, desto eher ist die Sprichwörtlichkeit des Ausspruchs erreicht; und in je weitern Kreisen diese Wiederholung erfolgt, desto grösser ist die Verbreitung des so entstandenen Sprichworts. Ich bemerkte, der Gedanke müsse im volksthümlichen Tone ausgesprochen werden; denn die Wiederholung, auch die häufigste und in den weitesten Kreisen erfolgende, macht ohne jene den Ausspruch nicht zum Sprichwort. So sind z. B. die Aussprüche: "Das Leben ist der Güter höchstes nicht"; "Das Spiel des Lebens sieht sich heiter an"; "Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme", häufiger wiederholt worden als die "angenehme Temperatur" des preussischen Kriegsministers von Roon; und dennoch ist der letztere Ausdruck, obgleich erst im Jahre 1862 geboren, sprichwörtlich, und jene Aussprüche sind es nicht. Ich verweise hier auf die Einleitung zu Büchmann's Geflügelten Worten (Berlin 1864).

Der Verbreitungskreis der Sprichwörter ist nicht derselbe, wenn es auch die Entstehung ist. Gewisse Sprichwörter sind nur persönliche, und sie bewegen sich in dem Kreise, in welchem sich die betreffende Person bewegt. Nur in seltenen Fällen gehen sie durch Hinzufügung des Namens in apologischer Form über ihre Heimatsstätte, die ihr eigentlicher Lebenskreis ist, hinaus; z. B.: "Wo bleib' ich? sagt Kessler" (Hildesheim); "Wart's ab, sagt Tuckermann" (Merseburg). Wie gewisse Sprichwörter blos einem Hause, einem Familienkreise, einem Dorfe, einer Stadt, einer Gegend, einer Provinz angehören und andere einem ganzen Volke, ja ganzen Sprachstämmen eigen sind; so möchte ich wieder von andern geradezu behaupten, dass sie Weltsprichwörter sind, dass sie sich bei allen Völkern von einiger Bildung befinden, nur etwa mit der selbstverständlichen Einschränkung, dass derselbe Gedanke unter andern Bildern in einer verschiedenen Fassung oder Hülle erscheint, wie sie sich da, wo der Gedanke ausgesprochen worden ist, geboten hat.

Die Frage, ob ein Sprichwort dem oder jenem Volke angehöre, bei welchem es entstanden, welches es blos durch Uebertragung empfangen habe, scheint mir, namentlich wenn es sich um Völker handelt, die in nachbarlichem, in geschäftlichem oder wissenschaftlichem Verkehr gestanden haben, schwer zu entscheiden. Da dieselben Factoren dieselben Producte geben, so kann derselbe Gedanke bei den verschiedenen Völkern unter ähnlicher Veranlassung als Sprichwort ins Leben treten, wobei natürlich die Form, in der es geschehen ist, von Interesse erscheint. Die Untersuchung, ob z. B. ein Sprichwort von den Franzosen zu den Deutschen oder von diesen zu jenen übergegangen sei, wird schwerlich zu einem zuverlässigen Resultat führen. Zunächst kann der Volksgeist jedes der beiden Völker es selbständig erzeugt haben, wie gewisse Erfindungen von den entlegensten Völkern unabhängig voneinander gemacht worden sind, sodass es keins vom andern empfangen hat. Wäre aber auch eins der beiden Völker das erzeugende, das andere das empfangende, auf welche Weise soll man dies ermitteln? Man kann sagen: Wenn man dasselbe Sprichwort in der französischen Literatur ein Jahrhundert früher findet als in der deutschen, so haben es die Deutschen von den Franzosen empfangen, oder umgekehrt im entgegengesetzten Falle. Der Schluss ist aber nicht zuverlässig. Abgesehen davon, dass die Behauptung, ein Sprichwort finde sich in der Literatur eines Volks früher als in der eines andern, sehr gewagt erscheint, weil es so gut wie unmöglich ist, zu wissen, ob sich nicht bei dem andern Volke irgendwo eine noch ältere Schrift vorfindet; so kann das Volk, bei dem das betreffende Sprichwort sich zuerst gedruckt findet, doch das empfangende sein, während es bei dem andern erzeugt worden ist und dort schon lange vorher im Volksmunde gelebt hat. Im deutschen Volksmunde leben noch Tausende und aber Tausende von Sprichwörtern, die noch nie gedruckt worden sind. Wie viele sind erst in den letzten Jahren durch Firmenich's Germaniens Völkerstimmen und Frommann's Deutsche Mundarten aus dem Volksmunde in die Literatur übergegangen! Wie viele wieder durch die mir gewordenen Zusendungen! Und warum sollen unter uns lebende Nichtdeutsche solche Sprichwörter, die sie im Verkehr vernehmen, nicht in ihr Land mitnehmen

sind, von dem Lexikon ausgeschlossen würden. Das Deutsche Sprichwörter-Lexikon soll aber auch ein Sprachschatz sein und musste daher seine Aufgabe allgemeiner fassen. Die Didaskalia (Frankfurt a. M. 1865, Nr. 24) deutet die Bedeutung desselben, wie für „die Sprachkunde, die reichen Stoff für ihre Interessen findet“, ebenso für die Culturgeschichte, die Lebensanschauung und Symbolik, die Sitten, wie die grossen und kleinen Erlebnisse zunächst der deutschen Stämme, aber auch vieler andern, mit deren Sprichwörtern die deutschen verglichen werden, an; sie hebt hervor, wie die Aehnlichkeit derselben untereinander, die theils aus geschichtlicher Uebernahme, theils aus (dynamischer) Verwandtschaft der Anschauung entspringt, dort den (ethnographischen) Gang der Bildung von einem Volk zum andern, hier die geistige (psychologische) Verwandtschaft und zugleich die Verschiedenheit der einzelnen Volksstämme, in dem sie neben dem allgemein menschlichen Erbe auch die Besonderheit der einzelnen Glieder der Menschheit darstellt.

Wie verschieden auch bald das Gepräge, bald der Gehalt der Sprichwörter sein mag, ihre Entstehung ist im wesentlichen dieselbe. Irgendeine Bemerkung, ein Gedanke wird bei einem gewissen Anlass in volksthümlichem Ton ausgesprochen, wobei es gleichgültig ist, ob durch die Schreibfinger oder durch den Mund. Dieser Ausspruch hat das Glück, aus irgendeinem Grunde zu gefallen; er wird bei demselben oder einem ähnlichen Anlass wiederholt, gleichviel ob durch den Mund, durch die Schreibfinger oder den Pressbengel. Je häufiger dies geschieht, desto eher ist die Sprichwörtlichkeit des Ausspruchs erreicht; und in je weitern Kreisen diese Wiederholung erfolgt, desto grösser ist die Verbreitung des so entstandenen Sprichworts. Ich bemerkte, der Gedanke müsse im volksthümlichen Tone ausgesprochen werden; denn die Wiederholung, auch die häufigste und in den weitesten Kreisen erfolgende, macht ohne jene den Ausspruch nicht zum Sprichwort. So sind z. B. die Aussprüche: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“; „Das Spiel des Lebens sieht sich heiter an“; „Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme“, häufiger wiederholt worden als die „angenehme Temperatur“ des preussischen Kriegsministers von Roon; und dennoch ist der letztere Ausdruck, obgleich erst im Jahre 1862 geboren, sprichwörtlich, und jene Aussprüche sind es nicht. Ich verweise hier auf die Einleitung zu Büchmann's Geflügelten Worten (Berlin 1864).

Der Verbreitungskreis der Sprichwörter ist nicht derselbe, wenn es auch die Entstehung ist. Gewisse Sprichwörter sind nur persönliche, und sie bewegen sich in dem Kreise, in welchem sich die betreffende Person bewegt. Nur in seltenen Fällen gehen sie durch Hinzufügung des Namens in apologischer Form über ihre Heimatsstätte, die ihr eigentlicher Lebenskreis ist, hinaus; z. B.: „Wo bleib' ich? sagt Kessler“ (Hildesheim); „Wart's ab, sagt Tuckermann“ (Merseburg). Wie gewisse Sprichwörter blos einem Hause, einem Familienkreise, einem Dorfe, einer Stadt, einer Gegend, einer Provinz angehören und andere einem ganzen Volke, ja ganzen Sprachstämmen eigen sind; so möchte ich wieder von andern geradezu behaupten, dass sie Weltsprichwörter sind, dass sie sich bei allen Völkern von einiger Bildung befinden, nur etwa mit der selbstverständlichen Einschränkung, dass derselbe Gedanke unter andern Bildern in einer verschiedenen Fassung oder Hülle erscheint, wie sie sich da, wo der Gedanke ausgesprochen worden ist, geboten hat.

Die Frage, ob ein Sprichwort dem oder jenem Volke angehöre, bei welchem es entstanden, welches es blos durch Uebertragung empfangen habe, scheint mir, namentlich wenn es sich um Völker handelt, die in nachbarlichem, in geschäftlichem oder wissenschaftlichem Verkehr gestanden haben, schwer zu entscheiden. Da dieselben Factoren dieselben Producte geben, so kann derselbe Gedanke bei den verschiedenen Völkern unter ähnlicher Veranlassung als Sprichwort ins Leben treten, wobei natürlich die Form, in der es geschehen ist, von Interesse erscheint. Die Untersuchung, ob z. B. ein Sprichwort von den Franzosen zu den Deutschen oder von diesen zu jenen übergegangen sei, wird schwerlich zu einem zuverlässigen Resultat führen. Zunächst kann der Volksgeist jedes der beiden Völker es selbständig erzeugt haben, wie gewisse Erfindungen von den entlegensten Völkern unabhängig voneinander gemacht worden sind, sodass es keins vom andern empfangen hat. Wäre aber auch eins der beiden Völker das erzeugende, das andere das empfangende, auf welche Weise soll man dies ermitteln? Man kann sagen: Wenn man dasselbe Sprichwort in der französischen Literatur ein Jahrhundert früher findet als in der deutschen, so haben es die Deutschen von den Franzosen empfangen, oder umgekehrt im entgegengesetzten Falle. Der Schluss ist aber nicht zuverlässig. Abgesehen davon, dass die Behauptung, ein Sprichwort finde sich in der Literatur eines Volks früher als in der eines andern, sehr gewagt erscheint, weil es so gut wie unmöglich ist, zu wissen, ob sich nicht bei dem andern Volke irgendwo eine noch ältere Schrift vorfindet; so kann das Volk, bei dem das betreffende Sprichwort sich zuerst gedruckt findet, doch das empfangende sein, während es bei dem andern erzeugt worden ist und dort schon lange vorher im Volksmunde gelebt hat. Im deutschen Volksmunde leben noch Tausende und aber Tausende von Sprichwörtern, die noch nie gedruckt worden sind. Wie viele sind erst in den letzten Jahren durch Firmenich's Germaniens Völkerstimmen und Frommann's Deutsche Mundarten aus dem Volksmunde in die Literatur übergegangen! Wie viele wieder durch die mir gewordenen Zusendungen! Und warum sollen unter uns lebende Nichtdeutsche solche Sprichwörter, die sie im Verkehr vernehmen, nicht in ihr Land mitnehmen

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[VI/0004] sind, von dem Lexikon ausgeschlossen würden. Das Deutsche Sprichwörter-Lexikon soll aber auch ein Sprachschatz sein und musste daher seine Aufgabe allgemeiner fassen. Die Didaskalia (Frankfurt a. M. 1865, Nr. 24) deutet die Bedeutung desselben, wie für „die Sprachkunde, die reichen Stoff für ihre Interessen findet“, ebenso für die Culturgeschichte, die Lebensanschauung und Symbolik, die Sitten, wie die grossen und kleinen Erlebnisse zunächst der deutschen Stämme, aber auch vieler andern, mit deren Sprichwörtern die deutschen verglichen werden, an; sie hebt hervor, wie die Aehnlichkeit derselben untereinander, die theils aus geschichtlicher Uebernahme, theils aus (dynamischer) Verwandtschaft der Anschauung entspringt, dort den (ethnographischen) Gang der Bildung von einem Volk zum andern, hier die geistige (psychologische) Verwandtschaft und zugleich die Verschiedenheit der einzelnen Volksstämme, in dem sie neben dem allgemein menschlichen Erbe auch die Besonderheit der einzelnen Glieder der Menschheit darstellt. Wie verschieden auch bald das Gepräge, bald der Gehalt der Sprichwörter sein mag, ihre Entstehung ist im wesentlichen dieselbe. Irgendeine Bemerkung, ein Gedanke wird bei einem gewissen Anlass in volksthümlichem Ton ausgesprochen, wobei es gleichgültig ist, ob durch die Schreibfinger oder durch den Mund. Dieser Ausspruch hat das Glück, aus irgendeinem Grunde zu gefallen; er wird bei demselben oder einem ähnlichen Anlass wiederholt, gleichviel ob durch den Mund, durch die Schreibfinger oder den Pressbengel. Je häufiger dies geschieht, desto eher ist die Sprichwörtlichkeit des Ausspruchs erreicht; und in je weitern Kreisen diese Wiederholung erfolgt, desto grösser ist die Verbreitung des so entstandenen Sprichworts. Ich bemerkte, der Gedanke müsse im volksthümlichen Tone ausgesprochen werden; denn die Wiederholung, auch die häufigste und in den weitesten Kreisen erfolgende, macht ohne jene den Ausspruch nicht zum Sprichwort. So sind z. B. die Aussprüche: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“; „Das Spiel des Lebens sieht sich heiter an“; „Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme“, häufiger wiederholt worden als die „angenehme Temperatur“ des preussischen Kriegsministers von Roon; und dennoch ist der letztere Ausdruck, obgleich erst im Jahre 1862 geboren, sprichwörtlich, und jene Aussprüche sind es nicht. Ich verweise hier auf die Einleitung zu Büchmann's Geflügelten Worten (Berlin 1864). Der Verbreitungskreis der Sprichwörter ist nicht derselbe, wenn es auch die Entstehung ist. Gewisse Sprichwörter sind nur persönliche, und sie bewegen sich in dem Kreise, in welchem sich die betreffende Person bewegt. Nur in seltenen Fällen gehen sie durch Hinzufügung des Namens in apologischer Form über ihre Heimatsstätte, die ihr eigentlicher Lebenskreis ist, hinaus; z. B.: „Wo bleib' ich? sagt Kessler“ (Hildesheim); „Wart's ab, sagt Tuckermann“ (Merseburg). Wie gewisse Sprichwörter blos einem Hause, einem Familienkreise, einem Dorfe, einer Stadt, einer Gegend, einer Provinz angehören und andere einem ganzen Volke, ja ganzen Sprachstämmen eigen sind; so möchte ich wieder von andern geradezu behaupten, dass sie Weltsprichwörter sind, dass sie sich bei allen Völkern von einiger Bildung befinden, nur etwa mit der selbstverständlichen Einschränkung, dass derselbe Gedanke unter andern Bildern in einer verschiedenen Fassung oder Hülle erscheint, wie sie sich da, wo der Gedanke ausgesprochen worden ist, geboten hat. Die Frage, ob ein Sprichwort dem oder jenem Volke angehöre, bei welchem es entstanden, welches es blos durch Uebertragung empfangen habe, scheint mir, namentlich wenn es sich um Völker handelt, die in nachbarlichem, in geschäftlichem oder wissenschaftlichem Verkehr gestanden haben, schwer zu entscheiden. Da dieselben Factoren dieselben Producte geben, so kann derselbe Gedanke bei den verschiedenen Völkern unter ähnlicher Veranlassung als Sprichwort ins Leben treten, wobei natürlich die Form, in der es geschehen ist, von Interesse erscheint. Die Untersuchung, ob z. B. ein Sprichwort von den Franzosen zu den Deutschen oder von diesen zu jenen übergegangen sei, wird schwerlich zu einem zuverlässigen Resultat führen. Zunächst kann der Volksgeist jedes der beiden Völker es selbständig erzeugt haben, wie gewisse Erfindungen von den entlegensten Völkern unabhängig voneinander gemacht worden sind, sodass es keins vom andern empfangen hat. Wäre aber auch eins der beiden Völker das erzeugende, das andere das empfangende, auf welche Weise soll man dies ermitteln? Man kann sagen: Wenn man dasselbe Sprichwort in der französischen Literatur ein Jahrhundert früher findet als in der deutschen, so haben es die Deutschen von den Franzosen empfangen, oder umgekehrt im entgegengesetzten Falle. Der Schluss ist aber nicht zuverlässig. Abgesehen davon, dass die Behauptung, ein Sprichwort finde sich in der Literatur eines Volks früher als in der eines andern, sehr gewagt erscheint, weil es so gut wie unmöglich ist, zu wissen, ob sich nicht bei dem andern Volke irgendwo eine noch ältere Schrift vorfindet; so kann das Volk, bei dem das betreffende Sprichwort sich zuerst gedruckt findet, doch das empfangende sein, während es bei dem andern erzeugt worden ist und dort schon lange vorher im Volksmunde gelebt hat. Im deutschen Volksmunde leben noch Tausende und aber Tausende von Sprichwörtern, die noch nie gedruckt worden sind. Wie viele sind erst in den letzten Jahren durch Firmenich's Germaniens Völkerstimmen und Frommann's Deutsche Mundarten aus dem Volksmunde in die Literatur übergegangen! Wie viele wieder durch die mir gewordenen Zusendungen! Und warum sollen unter uns lebende Nichtdeutsche solche Sprichwörter, die sie im Verkehr vernehmen, nicht in ihr Land mitnehmen

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Zitationshilfe: Wander, Karl Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Bd. 1. Leipzig, 1867, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wander_sprichwoerterlexikon01_1867/4>, abgerufen am 18.04.2024.