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Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.

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Ernst. Einer muß ja doch anfangen.
Hänschen. Wenn wir in dreißig Jahren an einen Abend
wie heute zurückdenken, erscheint er uns vielleicht unsagbar schön!
Ernst. Und wie macht sich jetzt alles so ganz von selbst!
Hänschen. Warum also nicht!
Ernst. Ist man zufällig allein -- dann weint man viel-
leicht gar.
Hänschen. Laß uns nicht traurig sein! -- (Er küßt ihn auf
den Mund.)
Ernst (küßt ihn). Ich ging von Hause fort mit dem Gedanken,
dich nur eben zu sprechen und wieder umzukehren.
Hänschen. Ich erwartete dich. -- Die Tugend kleidet
nicht schlecht, aber es gehören imposante Figuren hinein.
Ernst. Uns schlottert sie noch um die Glieder. -- Ich
wäre nicht ruhig geworden, wenn ich dich nicht getroffen hätte. --
Ich liebe dich, Hänschen, wie ich nie eine Seele geliebt habe. ...
Hänschen. Laß uns nicht traurig sein! -- Wenn wir
in dreißig Jahren zurückdenken, spotten wir ja vielleicht! -- Und
jetzt ist alles so schön! Die Berge glühen; die Trauben hängen
uns in den Mund und der Abendwind streicht an den Felsen hin
wie ein spielendes Schmeichelkätzchen. ...

Siebente Scene.
Helle Novembernacht. An Busch und Bäumen raschelt das dürre
Laub. Zerrissene Wolken jagen unter dem Mond hin. -- Melchior
klettert über die Kirchhofmauer.
Melchior (auf der Innenseite herabspringend). Hierher folgt mir
die Meute nicht. -- Derweil sie Bordelle absuchen, kann ich auf-
athmen und mir sagen, wie weit ich bin. ...

Ernſt. Einer muß ja doch anfangen.
Hänschen. Wenn wir in dreißig Jahren an einen Abend
wie heute zurückdenken, erſcheint er uns vielleicht unſagbar ſchön!
Ernſt. Und wie macht ſich jetzt alles ſo ganz von ſelbſt!
Hänschen. Warum alſo nicht!
Ernſt. Iſt man zufällig allein — dann weint man viel-
leicht gar.
Hänschen. Laß uns nicht traurig ſein! — (Er küßt ihn auf
den Mund.)
Ernſt (küßt ihn). Ich ging von Hauſe fort mit dem Gedanken,
dich nur eben zu ſprechen und wieder umzukehren.
Hänschen. Ich erwartete dich. — Die Tugend kleidet
nicht ſchlecht, aber es gehören impoſante Figuren hinein.
Ernſt. Uns ſchlottert ſie noch um die Glieder. — Ich
wäre nicht ruhig geworden, wenn ich dich nicht getroffen hätte. —
Ich liebe dich, Hänschen, wie ich nie eine Seele geliebt habe. …
Hänschen. Laß uns nicht traurig ſein! — Wenn wir
in dreißig Jahren zurückdenken, ſpotten wir ja vielleicht! — Und
jetzt iſt alles ſo ſchön! Die Berge glühen; die Trauben hängen
uns in den Mund und der Abendwind ſtreicht an den Felſen hin
wie ein ſpielendes Schmeichelkätzchen. …

Siebente Scene.
Helle Novembernacht. An Buſch und Bäumen raſchelt das dürre
Laub. Zerriſſene Wolken jagen unter dem Mond hin. — Melchior
klettert über die Kirchhofmauer.
Melchior (auf der Innenſeite herabſpringend). Hierher folgt mir
die Meute nicht. — Derweil ſie Bordelle abſuchen, kann ich auf-
athmen und mir ſagen, wie weit ich bin. …

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[75/0091] Ernſt. Einer muß ja doch anfangen. Hänschen. Wenn wir in dreißig Jahren an einen Abend wie heute zurückdenken, erſcheint er uns vielleicht unſagbar ſchön! Ernſt. Und wie macht ſich jetzt alles ſo ganz von ſelbſt! Hänschen. Warum alſo nicht! Ernſt. Iſt man zufällig allein — dann weint man viel- leicht gar. Hänschen. Laß uns nicht traurig ſein! — (Er küßt ihn auf den Mund.) Ernſt (küßt ihn). Ich ging von Hauſe fort mit dem Gedanken, dich nur eben zu ſprechen und wieder umzukehren. Hänschen. Ich erwartete dich. — Die Tugend kleidet nicht ſchlecht, aber es gehören impoſante Figuren hinein. Ernſt. Uns ſchlottert ſie noch um die Glieder. — Ich wäre nicht ruhig geworden, wenn ich dich nicht getroffen hätte. — Ich liebe dich, Hänschen, wie ich nie eine Seele geliebt habe. … Hänschen. Laß uns nicht traurig ſein! — Wenn wir in dreißig Jahren zurückdenken, ſpotten wir ja vielleicht! — Und jetzt iſt alles ſo ſchön! Die Berge glühen; die Trauben hängen uns in den Mund und der Abendwind ſtreicht an den Felſen hin wie ein ſpielendes Schmeichelkätzchen. … Siebente Scene. Helle Novembernacht. An Buſch und Bäumen raſchelt das dürre Laub. Zerriſſene Wolken jagen unter dem Mond hin. — Melchior klettert über die Kirchhofmauer. Melchior (auf der Innenſeite herabſpringend). Hierher folgt mir die Meute nicht. — Derweil ſie Bordelle abſuchen, kann ich auf- athmen und mir ſagen, wie weit ich bin. …

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Zitationshilfe: Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891/91>, abgerufen am 29.03.2024.