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Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.

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Kopf" erzählen. -- Das war eine wunderschöne Königin, schön
wie die Sonne, schöner als alle Mädchen im Land. Nur war
sie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen. Sie konnte nicht
essen, nicht trinken, konnte nicht sehen, nicht lachen und auch
nicht küssen. Sie vermochte sich mit ihrem Hofstaat nur durch
ihre kleine weiche Hand zu verständigen. Mit den zierlichen
Füssen strampelte sie Kriegserklärungen und Todesurtheile. Da
wurde sie eines Tages von einem Könige besiegt, der zufällig
zwei Köpfe hatte, die sich das ganze Jahr in den Haaren lagen
und dabei so aufgeregt disputirten, daß keiner den andern zu
Wort kommen ließ. Der Oberhofzauberer nahm nun den kleineren
der beiden und setzte ihn der Königin auf. Und siehe, er stand
ihr vortrefflich. Darauf heirathete der König die Königin, und
die Beiden lagen einander nun nicht mehr in den Haaren, sondern
küßten einander auf Stirn, auf Wangen und Mund und lebten
noch lange lange Jahre glücklich und in Freuden. ... Ver-
wünschter Unsinn! Seit den Ferien kommt mir die kopflose
Königin nicht aus dem Kopf. Wenn ich ein schönes Mädchen
sehe, seh' ich es ohne Kopf -- und erscheine mir dann plötzlich
selber als kopflose Königin. ... Möglich, daß mir nochmal
einer aufgesetzt wird.

(Frau Gabor kommt mit dem dampfenden Thee, den sie vor Moritz und Melchior
auf den Tisch setzt.)
Frau Gabor. Hier Kinder, laßt es euch munden. --
Guten Abend, Herr Stiefel; wie geht es Ihnen?
Moritz. Danke Frau Gabor. -- Ich belausche den Reigen
dort unten.
Frau Gabor. Sie sehen aber gar nicht gut aus. --
Fühlen Sie sich nicht wohl?
Moritz. Es hat nichts zu sagen. Ich bin die letzten
Abende etwas spät zu Bett gekommen.
Kopf“ erzählen. — Das war eine wunderſchöne Königin, ſchön
wie die Sonne, ſchöner als alle Mädchen im Land. Nur war
ſie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen. Sie konnte nicht
eſſen, nicht trinken, konnte nicht ſehen, nicht lachen und auch
nicht küſſen. Sie vermochte ſich mit ihrem Hofſtaat nur durch
ihre kleine weiche Hand zu verſtändigen. Mit den zierlichen
Füſſen ſtrampelte ſie Kriegserklärungen und Todesurtheile. Da
wurde ſie eines Tages von einem Könige beſiegt, der zufällig
zwei Köpfe hatte, die ſich das ganze Jahr in den Haaren lagen
und dabei ſo aufgeregt disputirten, daß keiner den andern zu
Wort kommen ließ. Der Oberhofzauberer nahm nun den kleineren
der beiden und ſetzte ihn der Königin auf. Und ſiehe, er ſtand
ihr vortrefflich. Darauf heirathete der König die Königin, und
die Beiden lagen einander nun nicht mehr in den Haaren, ſondern
küßten einander auf Stirn, auf Wangen und Mund und lebten
noch lange lange Jahre glücklich und in Freuden. … Ver-
wünſchter Unſinn! Seit den Ferien kommt mir die kopfloſe
Königin nicht aus dem Kopf. Wenn ich ein ſchönes Mädchen
ſehe, ſeh' ich es ohne Kopf — und erſcheine mir dann plötzlich
ſelber als kopfloſe Königin. … Möglich, daß mir nochmal
einer aufgeſetzt wird.

(Frau Gabor kommt mit dem dampfenden Thee, den ſie vor Moritz und Melchior
auf den Tiſch ſetzt.)
Frau Gabor. Hier Kinder, laßt es euch munden. —
Guten Abend, Herr Stiefel; wie geht es Ihnen?
Moritz. Danke Frau Gabor. — Ich belauſche den Reigen
dort unten.
Frau Gabor. Sie ſehen aber gar nicht gut aus. —
Fühlen Sie ſich nicht wohl?
Moritz. Es hat nichts zu ſagen. Ich bin die letzten
Abende etwas ſpät zu Bett gekommen.
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[27/0043] Kopf“ erzählen. — Das war eine wunderſchöne Königin, ſchön wie die Sonne, ſchöner als alle Mädchen im Land. Nur war ſie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen. Sie konnte nicht eſſen, nicht trinken, konnte nicht ſehen, nicht lachen und auch nicht küſſen. Sie vermochte ſich mit ihrem Hofſtaat nur durch ihre kleine weiche Hand zu verſtändigen. Mit den zierlichen Füſſen ſtrampelte ſie Kriegserklärungen und Todesurtheile. Da wurde ſie eines Tages von einem Könige beſiegt, der zufällig zwei Köpfe hatte, die ſich das ganze Jahr in den Haaren lagen und dabei ſo aufgeregt disputirten, daß keiner den andern zu Wort kommen ließ. Der Oberhofzauberer nahm nun den kleineren der beiden und ſetzte ihn der Königin auf. Und ſiehe, er ſtand ihr vortrefflich. Darauf heirathete der König die Königin, und die Beiden lagen einander nun nicht mehr in den Haaren, ſondern küßten einander auf Stirn, auf Wangen und Mund und lebten noch lange lange Jahre glücklich und in Freuden. … Ver- wünſchter Unſinn! Seit den Ferien kommt mir die kopfloſe Königin nicht aus dem Kopf. Wenn ich ein ſchönes Mädchen ſehe, ſeh' ich es ohne Kopf — und erſcheine mir dann plötzlich ſelber als kopfloſe Königin. … Möglich, daß mir nochmal einer aufgeſetzt wird. (Frau Gabor kommt mit dem dampfenden Thee, den ſie vor Moritz und Melchior auf den Tiſch ſetzt.) Frau Gabor. Hier Kinder, laßt es euch munden. — Guten Abend, Herr Stiefel; wie geht es Ihnen? Moritz. Danke Frau Gabor. — Ich belauſche den Reigen dort unten. Frau Gabor. Sie ſehen aber gar nicht gut aus. — Fühlen Sie ſich nicht wohl? Moritz. Es hat nichts zu ſagen. Ich bin die letzten Abende etwas ſpät zu Bett gekommen.

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Zitationshilfe: Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891/43>, abgerufen am 19.04.2024.