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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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tion, kurz der von uns oben angenommenen Be-
wegungsvorstellungen sind.
Die bei den Paralytikern zu
beobachtende Plumpheit der Bewegungen, der ungeschickte, jeder
Elasticität und Präcision entbehrende Gang derselben, giebt ein
Beispiel von derartigen Störungen der Bewegungsgefühle beim
Menschen; sie sind von jeher als Lähmungen aufgefasst worden.

Wir haben jetzt motorische Rindenstellen kennen gelernt,
welche mit einer centrifugalen Bahn verknüpft und zugleich Sitz
von Bewegungsvorstellungen sind. Es wirft sich daher, da wir
angeborene Ideen von vornherein ausschliessen, die Frage auf:
Wie gelangen diese Bewegungsvorstellungen in die Hirnrinde?
Bei Beantwortung derselben begegnen sich die Resultate der phy-
siologischen und philosophischen Deduction eines Brücke und
Lotze mit den aus anatomischen Thatsachen gezogenen Schlüssen
Meynert's. Nach Brücke und Lotze nämlich müssen die Bewe-
gungen in primäre und secundäre geschieden werden. Die pri-
mären sind die reflectorischen, welche beim Kinde den bewussten
lange vorangehen; aus ihnen sammelt das Kind die Bewegungs-
vorstellungen, welche es dann in den secundären, vom Willen her-
vorgerufenen und bewussten Bewegungen verwerthet. Complicirte
reflectorische Apparate nun finden sich präformirt im Sehhügel
und Vierhügel vor, deren Vorhandensein bekanntlich nach Abtra-
gung der Hemisphären noch genügt, um alle Bewegungsformen
reflectorisch zu Stande zu bringen. Da die Function dieser Gan-
glien somit an das Vorhandensein der Hemisphären gar nicht ge-
bunden ist, so kann die bedeutende Fasermasse, welche theils als
vorderer Stiel, theils als Bestandtheil der inneren Kapsel aus
dem Sehhügel in das Stirnhirn gelangt, nur den Sinn einer cen-
tripetalen Bahn haben, durch welche dem Stirnhirn die Innerva-
tionsgefühle der reflectorisch ablaufenden Bewegungen zugeführt
werden. So wird sie von Meynert aufgefasst, und so giebt sie
den angeführten Ansichten eine anatomische Basis.

Dass das Hinterhauptsschläfehirn ein sensorisches Gebilde ist,
geht aus den anatomischen Thatsachen unwiderleglich hervor.
Sämmtliche Sinnesnerven, deren centraler Verlauf bis in die Gross-
hirnrinde bekannt ist, endigen in der Rinde des Hinterhaupts-
schläfelappens; es sind der Olfactorius, der Opticus und der nicht
aus dem Kleinhirn entspringende Antheil des Rückenmarkshinter-
stranges. Die centrale Bahn des Acusticus ist bisher nur bis in

tion, kurz der von uns oben angenommenen Be-
wegungsvorstellungen sind.
Die bei den Paralytikern zu
beobachtende Plumpheit der Bewegungen, der ungeschickte, jeder
Elasticität und Präcision entbehrende Gang derselben, giebt ein
Beispiel von derartigen Störungen der Bewegungsgefühle beim
Menschen; sie sind von jeher als Lähmungen aufgefasst worden.

Wir haben jetzt motorische Rindenstellen kennen gelernt,
welche mit einer centrifugalen Bahn verknüpft und zugleich Sitz
von Bewegungsvorstellungen sind. Es wirft sich daher, da wir
angeborene Ideen von vornherein ausschliessen, die Frage auf:
Wie gelangen diese Bewegungsvorstellungen in die Hirnrinde?
Bei Beantwortung derselben begegnen sich die Resultate der phy-
siologischen und philosophischen Deduction eines Brücke und
Lotze mit den aus anatomischen Thatsachen gezogenen Schlüssen
Meynert’s. Nach Brücke und Lotze nämlich müssen die Bewe-
gungen in primäre und secundäre geschieden werden. Die pri-
mären sind die reflectorischen, welche beim Kinde den bewussten
lange vorangehen; aus ihnen sammelt das Kind die Bewegungs-
vorstellungen, welche es dann in den secundären, vom Willen her-
vorgerufenen und bewussten Bewegungen verwerthet. Complicirte
reflectorische Apparate nun finden sich präformirt im Sehhügel
und Vierhügel vor, deren Vorhandensein bekanntlich nach Abtra-
gung der Hemisphären noch genügt, um alle Bewegungsformen
reflectorisch zu Stande zu bringen. Da die Function dieser Gan-
glien somit an das Vorhandensein der Hemisphären gar nicht ge-
bunden ist, so kann die bedeutende Fasermasse, welche theils als
vorderer Stiel, theils als Bestandtheil der inneren Kapsel aus
dem Sehhügel in das Stirnhirn gelangt, nur den Sinn einer cen-
tripetalen Bahn haben, durch welche dem Stirnhirn die Innerva-
tionsgefühle der reflectorisch ablaufenden Bewegungen zugeführt
werden. So wird sie von Meynert aufgefasst, und so giebt sie
den angeführten Ansichten eine anatomische Basis.

Dass das Hinterhauptsschläfehirn ein sensorisches Gebilde ist,
geht aus den anatomischen Thatsachen unwiderleglich hervor.
Sämmtliche Sinnesnerven, deren centraler Verlauf bis in die Gross-
hirnrinde bekannt ist, endigen in der Rinde des Hinterhaupts-
schläfelappens; es sind der Olfactorius, der Opticus und der nicht
aus dem Kleinhirn entspringende Antheil des Rückenmarkshinter-
stranges. Die centrale Bahn des Acusticus ist bisher nur bis in

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[8/0012] tion, kurz der von uns oben angenommenen Be- wegungsvorstellungen sind. Die bei den Paralytikern zu beobachtende Plumpheit der Bewegungen, der ungeschickte, jeder Elasticität und Präcision entbehrende Gang derselben, giebt ein Beispiel von derartigen Störungen der Bewegungsgefühle beim Menschen; sie sind von jeher als Lähmungen aufgefasst worden. Wir haben jetzt motorische Rindenstellen kennen gelernt, welche mit einer centrifugalen Bahn verknüpft und zugleich Sitz von Bewegungsvorstellungen sind. Es wirft sich daher, da wir angeborene Ideen von vornherein ausschliessen, die Frage auf: Wie gelangen diese Bewegungsvorstellungen in die Hirnrinde? Bei Beantwortung derselben begegnen sich die Resultate der phy- siologischen und philosophischen Deduction eines Brücke und Lotze mit den aus anatomischen Thatsachen gezogenen Schlüssen Meynert’s. Nach Brücke und Lotze nämlich müssen die Bewe- gungen in primäre und secundäre geschieden werden. Die pri- mären sind die reflectorischen, welche beim Kinde den bewussten lange vorangehen; aus ihnen sammelt das Kind die Bewegungs- vorstellungen, welche es dann in den secundären, vom Willen her- vorgerufenen und bewussten Bewegungen verwerthet. Complicirte reflectorische Apparate nun finden sich präformirt im Sehhügel und Vierhügel vor, deren Vorhandensein bekanntlich nach Abtra- gung der Hemisphären noch genügt, um alle Bewegungsformen reflectorisch zu Stande zu bringen. Da die Function dieser Gan- glien somit an das Vorhandensein der Hemisphären gar nicht ge- bunden ist, so kann die bedeutende Fasermasse, welche theils als vorderer Stiel, theils als Bestandtheil der inneren Kapsel aus dem Sehhügel in das Stirnhirn gelangt, nur den Sinn einer cen- tripetalen Bahn haben, durch welche dem Stirnhirn die Innerva- tionsgefühle der reflectorisch ablaufenden Bewegungen zugeführt werden. So wird sie von Meynert aufgefasst, und so giebt sie den angeführten Ansichten eine anatomische Basis. Dass das Hinterhauptsschläfehirn ein sensorisches Gebilde ist, geht aus den anatomischen Thatsachen unwiderleglich hervor. Sämmtliche Sinnesnerven, deren centraler Verlauf bis in die Gross- hirnrinde bekannt ist, endigen in der Rinde des Hinterhaupts- schläfelappens; es sind der Olfactorius, der Opticus und der nicht aus dem Kleinhirn entspringende Antheil des Rückenmarkshinter- stranges. Die centrale Bahn des Acusticus ist bisher nur bis in

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/12>, abgerufen am 28.03.2024.