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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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an Asymbolie (Finkelnburg) leiden werden, und dass dadurch das
Bild noch bei weitem complicirter und schwieriger zu erkennen
sein wird. Die Sectionsbefunde von Taubstummen würden sowohl
in diesen Fällen, als auch sonst, für die Lehre von der Aphasie
von der grössten Wichtigkeit sein.

Treten wir dem Begriffe der Asymbolie, nicht in unserem
präcisen Sinne, sondern wie ihn Finkelnburg aufgestellt hat, etwas
näher. Der eine Kranke Finkelnburg's erkennt die ihm be-
kannten Personen und Orte nicht wieder; die andere zeigt
Mangel an Verständniss für die gehörten Worte, sie macht beim
Tischgebet nicht mehr das Kreuz, verwechselt Bewegungen, die
sie ausführen soll. Der 3. Kranke verwechselte die Tasten und
konnte nicht mehr nach Noten spielen. Der 4. zeichnet sich vor
andern Aphasischen durch Einbusse des Verständnisses für Münzen
aus; dem 5. endlich sind die Symbole des Cultus, des Staats-
dienstes, und die Ausdrucksformen der gesellschaftlichen Conven-
tionsregeln fremd geworden. Asymbolie würde nach diesen Bei-
spielen etwa als das Verkennen der Bedeutung eines Gegenstan-
des, einer Handlung zu definiren sein. Besonders die Fälle 4 und
5 würden nichts Auffälliges haben, denn die Hälfte aller Geistes-
kranken in den Irrenanstalten zeigt dieselben Symptome. Diese
Symptome selbst aber fallen zusammen mit einem Defecte der
Intelligenz. Etwas schlimmeres könnte der Lehre von der Aphasie
gar nicht begegnen, als dass man die dabei vorkommenden
Störungen der Intelligenz -- wie sie gelegentlich auch bei jeder
anderen Heerderkrankung des Gehirnes zu beobachten sind, --
als wesentlich zum Krankheitsbild gehörig auffasste. Man würde
dabei in denselben Fehler verfallen, wie wenn man die den apo-
plectischen Anfall begleitende Bewusstlosigkeit durch die Zerstörung
des Linsenkernes erklären wollte.

Halten wir uns nur an die ersten Beispiele Finkelnburg's,
so lässt sich ihnen allerdings eine günstigere Definition entnehmen.
Asymbolie würde dann gleichbedeutend sein mit dem Erlöschen
des optischen Erinnerungsbildes eines Gegenstandes,*) oder mit
dem Erlöschen irgend eines der für den Begriff wesentlichen Er-
innerungsbilder eines Gegenstandes. Ueber die Intelligenzstörung
kämen wir immer nicht hinweg, aber wir hätten wenigstens eine

*) Um das Richtige in Finkelnburg's Beobachtung adoptiren zu können,
nehmen wir uns das Recht, den Namen der Asymbolie auch auf die wesent-
lichen Tast- und Gehörsbilder etc. anzuwenden.

an Asymbolie (Finkelnburg) leiden werden, und dass dadurch das
Bild noch bei weitem complicirter und schwieriger zu erkennen
sein wird. Die Sectionsbefunde von Taubstummen würden sowohl
in diesen Fällen, als auch sonst, für die Lehre von der Aphasie
von der grössten Wichtigkeit sein.

Treten wir dem Begriffe der Asymbolie, nicht in unserem
präcisen Sinne, sondern wie ihn Finkelnburg aufgestellt hat, etwas
näher. Der eine Kranke Finkelnburg’s erkennt die ihm be-
kannten Personen und Orte nicht wieder; die andere zeigt
Mangel an Verständniss für die gehörten Worte, sie macht beim
Tischgebet nicht mehr das Kreuz, verwechselt Bewegungen, die
sie ausführen soll. Der 3. Kranke verwechselte die Tasten und
konnte nicht mehr nach Noten spielen. Der 4. zeichnet sich vor
andern Aphasischen durch Einbusse des Verständnisses für Münzen
aus; dem 5. endlich sind die Symbole des Cultus, des Staats-
dienstes, und die Ausdrucksformen der gesellschaftlichen Conven-
tionsregeln fremd geworden. Asymbolie würde nach diesen Bei-
spielen etwa als das Verkennen der Bedeutung eines Gegenstan-
des, einer Handlung zu definiren sein. Besonders die Fälle 4 und
5 würden nichts Auffälliges haben, denn die Hälfte aller Geistes-
kranken in den Irrenanstalten zeigt dieselben Symptome. Diese
Symptome selbst aber fallen zusammen mit einem Defecte der
Intelligenz. Etwas schlimmeres könnte der Lehre von der Aphasie
gar nicht begegnen, als dass man die dabei vorkommenden
Störungen der Intelligenz — wie sie gelegentlich auch bei jeder
anderen Heerderkrankung des Gehirnes zu beobachten sind, —
als wesentlich zum Krankheitsbild gehörig auffasste. Man würde
dabei in denselben Fehler verfallen, wie wenn man die den apo-
plectischen Anfall begleitende Bewusstlosigkeit durch die Zerstörung
des Linsenkernes erklären wollte.

Halten wir uns nur an die ersten Beispiele Finkelnburg’s,
so lässt sich ihnen allerdings eine günstigere Definition entnehmen.
Asymbolie würde dann gleichbedeutend sein mit dem Erlöschen
des optischen Erinnerungsbildes eines Gegenstandes,*) oder mit
dem Erlöschen irgend eines der für den Begriff wesentlichen Er-
innerungsbilder eines Gegenstandes. Ueber die Intelligenzstörung
kämen wir immer nicht hinweg, aber wir hätten wenigstens eine

*) Um das Richtige in Finkelnburg’s Beobachtung adoptiren zu können,
nehmen wir uns das Recht, den Namen der Asymbolie auch auf die wesent-
lichen Tast- und Gehörsbilder etc. anzuwenden.
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[35/0039] an Asymbolie (Finkelnburg) leiden werden, und dass dadurch das Bild noch bei weitem complicirter und schwieriger zu erkennen sein wird. Die Sectionsbefunde von Taubstummen würden sowohl in diesen Fällen, als auch sonst, für die Lehre von der Aphasie von der grössten Wichtigkeit sein. Treten wir dem Begriffe der Asymbolie, nicht in unserem präcisen Sinne, sondern wie ihn Finkelnburg aufgestellt hat, etwas näher. Der eine Kranke Finkelnburg’s erkennt die ihm be- kannten Personen und Orte nicht wieder; die andere zeigt Mangel an Verständniss für die gehörten Worte, sie macht beim Tischgebet nicht mehr das Kreuz, verwechselt Bewegungen, die sie ausführen soll. Der 3. Kranke verwechselte die Tasten und konnte nicht mehr nach Noten spielen. Der 4. zeichnet sich vor andern Aphasischen durch Einbusse des Verständnisses für Münzen aus; dem 5. endlich sind die Symbole des Cultus, des Staats- dienstes, und die Ausdrucksformen der gesellschaftlichen Conven- tionsregeln fremd geworden. Asymbolie würde nach diesen Bei- spielen etwa als das Verkennen der Bedeutung eines Gegenstan- des, einer Handlung zu definiren sein. Besonders die Fälle 4 und 5 würden nichts Auffälliges haben, denn die Hälfte aller Geistes- kranken in den Irrenanstalten zeigt dieselben Symptome. Diese Symptome selbst aber fallen zusammen mit einem Defecte der Intelligenz. Etwas schlimmeres könnte der Lehre von der Aphasie gar nicht begegnen, als dass man die dabei vorkommenden Störungen der Intelligenz — wie sie gelegentlich auch bei jeder anderen Heerderkrankung des Gehirnes zu beobachten sind, — als wesentlich zum Krankheitsbild gehörig auffasste. Man würde dabei in denselben Fehler verfallen, wie wenn man die den apo- plectischen Anfall begleitende Bewusstlosigkeit durch die Zerstörung des Linsenkernes erklären wollte. Halten wir uns nur an die ersten Beispiele Finkelnburg’s, so lässt sich ihnen allerdings eine günstigere Definition entnehmen. Asymbolie würde dann gleichbedeutend sein mit dem Erlöschen des optischen Erinnerungsbildes eines Gegenstandes, *) oder mit dem Erlöschen irgend eines der für den Begriff wesentlichen Er- innerungsbilder eines Gegenstandes. Ueber die Intelligenzstörung kämen wir immer nicht hinweg, aber wir hätten wenigstens eine *) Um das Richtige in Finkelnburg’s Beobachtung adoptiren zu können, nehmen wir uns das Recht, den Namen der Asymbolie auch auf die wesent- lichen Tast- und Gehörsbilder etc. anzuwenden.

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/39>, abgerufen am 28.03.2024.