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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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In der von Meynert geschaffenen Faserungslehre des Gehirnes
sind die Anfänge einer exacten Gehirn-Physiologie enthalten,
zwar nur in grossen allgemeinen Zügen, aber in Zügen von so
genialer innerer Wahrheit, dass sie schon jetzt unbedenklich die
Anwendung auf den einzelnen Fall gestatten.

Die vorliegende Arbeit ist ein derartiger Versuch, die
Meynert'sche Gehirn-Anatomie praktisch zu verwerthen, und zwar
für ein Gebiet, in welchem derartige Grundlagen am meisten
Bedürfniss sein sollten, in der That aber bisher am wenigsten
benützt worden sind, den normalen Sprachvorgang und die unter
dem Namen der Aphasie bekannten Störungen desselben.

Wie weit ich nur Meynert's Anschauungen wiedergebe, wie
weit ich eigenes geistiges Eigenthum bringe, das werden die
Schüler Meynert's leicht herauserkennen. Bei der engen Anleh-
nung an die Gehirnanatomie, welche die Behandlung eines solchen
Themas erfordert, war es geradezu unmöglich, die Autorschaft
Meynert's überall ausdrücklich anzuführen. Jedenfalls fällt Alles
was von Verdienst in der vorliegenden Arbeit gefunden werden
sollte, schliesslich auf Meynert zurück, denn aus dem Studium
seiner Schriften und Präparate ergiebt sich die hier vertretene
Auffassung wie von selbst.

I.

Die Lehre von der Einheit des Bewusstseins in dem Sinne
Flourens', welcher die verschiedenen Stellen der Grosshirn-
oberfläche als gleichwerthig erachtete, ist längst unhaltbar ge-
worden.*) Aber nicht in dem Sinne der Phrenologen, welche für

*) Wenn Nothnagel nach Anführung von Experimenten, welche durch-
aus für die localisirte Function sprechen, dennoch auf die Flourens'sche Ansicht
zurückgreift, so scheint mir dies ein innerer Widerspruch.
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In der von Meynert geschaffenen Faserungslehre des Gehirnes
sind die Anfänge einer exacten Gehirn-Physiologie enthalten,
zwar nur in grossen allgemeinen Zügen, aber in Zügen von so
genialer innerer Wahrheit, dass sie schon jetzt unbedenklich die
Anwendung auf den einzelnen Fall gestatten.

Die vorliegende Arbeit ist ein derartiger Versuch, die
Meynert’sche Gehirn-Anatomie praktisch zu verwerthen, und zwar
für ein Gebiet, in welchem derartige Grundlagen am meisten
Bedürfniss sein sollten, in der That aber bisher am wenigsten
benützt worden sind, den normalen Sprachvorgang und die unter
dem Namen der Aphasie bekannten Störungen desselben.

Wie weit ich nur Meynert’s Anschauungen wiedergebe, wie
weit ich eigenes geistiges Eigenthum bringe, das werden die
Schüler Meynert’s leicht herauserkennen. Bei der engen Anleh-
nung an die Gehirnanatomie, welche die Behandlung eines solchen
Themas erfordert, war es geradezu unmöglich, die Autorschaft
Meynert’s überall ausdrücklich anzuführen. Jedenfalls fällt Alles
was von Verdienst in der vorliegenden Arbeit gefunden werden
sollte, schliesslich auf Meynert zurück, denn aus dem Studium
seiner Schriften und Präparate ergiebt sich die hier vertretene
Auffassung wie von selbst.

I.

Die Lehre von der Einheit des Bewusstseins in dem Sinne
Flourens’, welcher die verschiedenen Stellen der Grosshirn-
oberfläche als gleichwerthig erachtete, ist längst unhaltbar ge-
worden.*) Aber nicht in dem Sinne der Phrenologen, welche für

*) Wenn Nothnagel nach Anführung von Experimenten, welche durch-
aus für die localisirte Function sprechen, dennoch auf die Flourens’sche Ansicht
zurückgreift, so scheint mir dies ein innerer Widerspruch.
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[[3]/0007] In der von Meynert geschaffenen Faserungslehre des Gehirnes sind die Anfänge einer exacten Gehirn-Physiologie enthalten, zwar nur in grossen allgemeinen Zügen, aber in Zügen von so genialer innerer Wahrheit, dass sie schon jetzt unbedenklich die Anwendung auf den einzelnen Fall gestatten. Die vorliegende Arbeit ist ein derartiger Versuch, die Meynert’sche Gehirn-Anatomie praktisch zu verwerthen, und zwar für ein Gebiet, in welchem derartige Grundlagen am meisten Bedürfniss sein sollten, in der That aber bisher am wenigsten benützt worden sind, den normalen Sprachvorgang und die unter dem Namen der Aphasie bekannten Störungen desselben. Wie weit ich nur Meynert’s Anschauungen wiedergebe, wie weit ich eigenes geistiges Eigenthum bringe, das werden die Schüler Meynert’s leicht herauserkennen. Bei der engen Anleh- nung an die Gehirnanatomie, welche die Behandlung eines solchen Themas erfordert, war es geradezu unmöglich, die Autorschaft Meynert’s überall ausdrücklich anzuführen. Jedenfalls fällt Alles was von Verdienst in der vorliegenden Arbeit gefunden werden sollte, schliesslich auf Meynert zurück, denn aus dem Studium seiner Schriften und Präparate ergiebt sich die hier vertretene Auffassung wie von selbst. I. Die Lehre von der Einheit des Bewusstseins in dem Sinne Flourens’, welcher die verschiedenen Stellen der Grosshirn- oberfläche als gleichwerthig erachtete, ist längst unhaltbar ge- worden. *) Aber nicht in dem Sinne der Phrenologen, welche für *) Wenn Nothnagel nach Anführung von Experimenten, welche durch- aus für die localisirte Function sprechen, dennoch auf die Flourens’sche Ansicht zurückgreift, so scheint mir dies ein innerer Widerspruch. 1*

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/7>, abgerufen am 25.04.2024.