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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
zu entdeken, und das der Blumen-Kranz ein Kunstgrif
von ihrer Erfindung gewesen war. Nach dieser Nie-
derträchtigkeit war keine Boßheit so ungeheuer, deren
ich diese Elende nicht fähig gehalten hätte. Jch besorgte
nichts für mich selbst, aber alles für die arme Psyche,
welche ich der Gewalt einer Nebenbuhlerin überlassen
mußte, ohne daß mir alle meine Zärtlichkeit für sie das
Vermögen geben konnte, sie davon zu befreyen.

Fünftes Capitel.
Agathon entfliehet von Delphi, und
findet seinen Vater.

Nachdem ich etliche Tage in der grausamen Ungewiß-
heit, was aus meiner Geliebten geworden seyn möchte,
zugebracht hatte, erfuhr ich endlich von einer Sclavin
der Pythia, welche ihre Freundin gewesen war, daß
sie nicht mehr in Delphi sey. Dieses war alle Nach-
richt, die ich von ihr ziehen konnte; aber es war ge-
nug, mir den Aufenthalt von Delphi unerträglich zu
machen. Nunmehr bedacht' ich mich keinen Augenblik,
was ich thun wollte. Jch stahl mich in der nächsten
Nacht hinweg, ohne um die Folgen eines so unbeson-
nenen Schrittes bekümmert zu seyn; oder richtiger zu
sagen, in einem Gemüths-Zustande, worinn ich unfä-
hig war, einige vernünftige Ueberlegung zu machen.
Jch irrte eine Zeitlang an allen Orten herum, wo ich

eine

Agathon.
zu entdeken, und das der Blumen-Kranz ein Kunſtgrif
von ihrer Erfindung geweſen war. Nach dieſer Nie-
dertraͤchtigkeit war keine Boßheit ſo ungeheuer, deren
ich dieſe Elende nicht faͤhig gehalten haͤtte. Jch beſorgte
nichts fuͤr mich ſelbſt, aber alles fuͤr die arme Pſyche,
welche ich der Gewalt einer Nebenbuhlerin uͤberlaſſen
mußte, ohne daß mir alle meine Zaͤrtlichkeit fuͤr ſie das
Vermoͤgen geben konnte, ſie davon zu befreyen.

Fuͤnftes Capitel.
Agathon entfliehet von Delphi, und
findet ſeinen Vater.

Nachdem ich etliche Tage in der grauſamen Ungewiß-
heit, was aus meiner Geliebten geworden ſeyn moͤchte,
zugebracht hatte, erfuhr ich endlich von einer Sclavin
der Pythia, welche ihre Freundin geweſen war, daß
ſie nicht mehr in Delphi ſey. Dieſes war alle Nach-
richt, die ich von ihr ziehen konnte; aber es war ge-
nug, mir den Aufenthalt von Delphi unertraͤglich zu
machen. Nunmehr bedacht’ ich mich keinen Augenblik,
was ich thun wollte. Jch ſtahl mich in der naͤchſten
Nacht hinweg, ohne um die Folgen eines ſo unbeſon-
nenen Schrittes bekuͤmmert zu ſeyn; oder richtiger zu
ſagen, in einem Gemuͤths-Zuſtande, worinn ich unfaͤ-
hig war, einige vernuͤnftige Ueberlegung zu machen.
Jch irrte eine Zeitlang an allen Orten herum, wo ich

eine
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[312/0334] Agathon. zu entdeken, und das der Blumen-Kranz ein Kunſtgrif von ihrer Erfindung geweſen war. Nach dieſer Nie- dertraͤchtigkeit war keine Boßheit ſo ungeheuer, deren ich dieſe Elende nicht faͤhig gehalten haͤtte. Jch beſorgte nichts fuͤr mich ſelbſt, aber alles fuͤr die arme Pſyche, welche ich der Gewalt einer Nebenbuhlerin uͤberlaſſen mußte, ohne daß mir alle meine Zaͤrtlichkeit fuͤr ſie das Vermoͤgen geben konnte, ſie davon zu befreyen. Fuͤnftes Capitel. Agathon entfliehet von Delphi, und findet ſeinen Vater. Nachdem ich etliche Tage in der grauſamen Ungewiß- heit, was aus meiner Geliebten geworden ſeyn moͤchte, zugebracht hatte, erfuhr ich endlich von einer Sclavin der Pythia, welche ihre Freundin geweſen war, daß ſie nicht mehr in Delphi ſey. Dieſes war alle Nach- richt, die ich von ihr ziehen konnte; aber es war ge- nug, mir den Aufenthalt von Delphi unertraͤglich zu machen. Nunmehr bedacht’ ich mich keinen Augenblik, was ich thun wollte. Jch ſtahl mich in der naͤchſten Nacht hinweg, ohne um die Folgen eines ſo unbeſon- nenen Schrittes bekuͤmmert zu ſeyn; oder richtiger zu ſagen, in einem Gemuͤths-Zuſtande, worinn ich unfaͤ- hig war, einige vernuͤnftige Ueberlegung zu machen. Jch irrte eine Zeitlang an allen Orten herum, wo ich eine

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/334>, abgerufen am 28.03.2024.