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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Drittes Buch, drittes Capitel.
desten Begriff. Man verspricht uns nach dem Tod ein
unsterbliches Leben bey den Göttern; aber die Begriffe
die wir uns davon machen, sind entweder aus den sinn-
lichen Wollüsten, oder den feinern und geistigern Freu-
den, die wir in diesem Leben erfahren haben, zusam-
mengesezt; es ist also klar, daß wir gar keine echte
Vorstellung von dem Leben der Geister und von ihren
Freude haben. Jch will hiemit nicht läugnen, daß
es Götter, Geister oder vollkommnere Wesen als
wir sind, haben könne oder würklich habe. Alles was
meine Schlüsse zu beweisen scheinen, ist dieses, "daß
wir unfähig sind, uns eine richtige Jdee von ihnen zu ma-
chen, oder kurz, daß wir nichts von ihnen wissen."
Wissen wir aber nichts, weder von ihrem Zustande noch
von ihrer Natur, so ist es für uns eben so viel, als ob
sie gar nicht wären. Anaxagoras bewies mir einst mit
dem ganzen Enthusiasmus eines Sternsehers, daß der
Mond Einwohner habe. Vielleicht sagte er die Wahr-
heit. Allein was sind diese Mondbewohner für uns?
Meynest du, der König Philippus werde sich die minde-
ste Sorge machen, die Griechen möchten sie gegen ihn
zu Hülfe rufen? Es mögen Einwohner im Monde
seyn; für uns ist der Mond weder mehr noch weniger
als eine leere glänzende Scheibe, die unsre Nächte er-
heitert, und unsre Zeit abmißt. Hat es aber diese Be-
wandniß, wie es denn nicht anders seyn kann, wie
thöricht ist es, den Plan seines Lebens nach Schimären
einzurichten, und sich der Glükseligkeit deren man würk-
lich geniessen könnte, zu begeben, um sich mit ungewis-

sen
G 2

Drittes Buch, drittes Capitel.
deſten Begriff. Man verſpricht uns nach dem Tod ein
unſterbliches Leben bey den Goͤttern; aber die Begriffe
die wir uns davon machen, ſind entweder aus den ſinn-
lichen Wolluͤſten, oder den feinern und geiſtigern Freu-
den, die wir in dieſem Leben erfahren haben, zuſam-
mengeſezt; es iſt alſo klar, daß wir gar keine echte
Vorſtellung von dem Leben der Geiſter und von ihren
Freude haben. Jch will hiemit nicht laͤugnen, daß
es Goͤtter, Geiſter oder vollkommnere Weſen als
wir ſind, haben koͤnne oder wuͤrklich habe. Alles was
meine Schluͤſſe zu beweiſen ſcheinen, iſt dieſes, „daß
wir unfaͤhig ſind, uns eine richtige Jdee von ihnen zu ma-
chen, oder kurz, daß wir nichts von ihnen wiſſen.„
Wiſſen wir aber nichts, weder von ihrem Zuſtande noch
von ihrer Natur, ſo iſt es fuͤr uns eben ſo viel, als ob
ſie gar nicht waͤren. Anaxagoras bewies mir einſt mit
dem ganzen Enthuſiasmus eines Sternſehers, daß der
Mond Einwohner habe. Vielleicht ſagte er die Wahr-
heit. Allein was ſind dieſe Mondbewohner fuͤr uns?
Meyneſt du, der Koͤnig Philippus werde ſich die minde-
ſte Sorge machen, die Griechen moͤchten ſie gegen ihn
zu Huͤlfe rufen? Es moͤgen Einwohner im Monde
ſeyn; fuͤr uns iſt der Mond weder mehr noch weniger
als eine leere glaͤnzende Scheibe, die unſre Naͤchte er-
heitert, und unſre Zeit abmißt. Hat es aber dieſe Be-
wandniß, wie es denn nicht anders ſeyn kann, wie
thoͤricht iſt es, den Plan ſeines Lebens nach Schimaͤren
einzurichten, und ſich der Gluͤkſeligkeit deren man wuͤrk-
lich genieſſen koͤnnte, zu begeben, um ſich mit ungewiſ-

ſen
G 2
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[99/0121] Drittes Buch, drittes Capitel. deſten Begriff. Man verſpricht uns nach dem Tod ein unſterbliches Leben bey den Goͤttern; aber die Begriffe die wir uns davon machen, ſind entweder aus den ſinn- lichen Wolluͤſten, oder den feinern und geiſtigern Freu- den, die wir in dieſem Leben erfahren haben, zuſam- mengeſezt; es iſt alſo klar, daß wir gar keine echte Vorſtellung von dem Leben der Geiſter und von ihren Freude haben. Jch will hiemit nicht laͤugnen, daß es Goͤtter, Geiſter oder vollkommnere Weſen als wir ſind, haben koͤnne oder wuͤrklich habe. Alles was meine Schluͤſſe zu beweiſen ſcheinen, iſt dieſes, „daß wir unfaͤhig ſind, uns eine richtige Jdee von ihnen zu ma- chen, oder kurz, daß wir nichts von ihnen wiſſen.„ Wiſſen wir aber nichts, weder von ihrem Zuſtande noch von ihrer Natur, ſo iſt es fuͤr uns eben ſo viel, als ob ſie gar nicht waͤren. Anaxagoras bewies mir einſt mit dem ganzen Enthuſiasmus eines Sternſehers, daß der Mond Einwohner habe. Vielleicht ſagte er die Wahr- heit. Allein was ſind dieſe Mondbewohner fuͤr uns? Meyneſt du, der Koͤnig Philippus werde ſich die minde- ſte Sorge machen, die Griechen moͤchten ſie gegen ihn zu Huͤlfe rufen? Es moͤgen Einwohner im Monde ſeyn; fuͤr uns iſt der Mond weder mehr noch weniger als eine leere glaͤnzende Scheibe, die unſre Naͤchte er- heitert, und unſre Zeit abmißt. Hat es aber dieſe Be- wandniß, wie es denn nicht anders ſeyn kann, wie thoͤricht iſt es, den Plan ſeines Lebens nach Schimaͤren einzurichten, und ſich der Gluͤkſeligkeit deren man wuͤrk- lich genieſſen koͤnnte, zu begeben, um ſich mit ungewiſ- ſen G 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/121>, abgerufen am 29.03.2024.