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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Viertes Buch, erstes Capitel.
wohl versorgt hielte. Da nun Agathon so sorgfältig
gewesen war, ihm alles zu verbergen, was einigen
Berdacht hätte erweken können, daß er jemals etwas
mehr als ein Aufwärter in dem Tempel zu Delphi ge-
wesen; so konnte Hippias mit desto besserm Grunde
voraussezen, daß er noch ein vollkommner Neuling in der
Welt sey, als weder die Denkungsart noch das Betra-
gen dieses jungen Menschen so beschaffen war, daß ein
Kenner auf günftigere Gedanken hätte gebracht werden
sollen. Leute von seiner Art können, in der That ze-
hen Jahre hinter einander in der grossen Welt gelebt
haben, ohne daß sie dieses fremde und entlehnte Anse-
hen verliehren, welches beym ersten Blik verkündiget,
daß sie hier nicht einheimisch sind; geschweige, daß sie
fähig wären, sich jemals zu dieser edeln Freyheit von den
Fesseln der gesunden Vernunft, zu dieser weisen Gleich-
gültigkeit gegen alles was die schwärmerischen Seelen
Empfindung nennen, und zu dieser verzärtelten Fein-
heit des Geschmaks zu erheben, wodurch die Weltleute
sich auf eine so vortheilhafte Art unterscheiden. Solche
Leute können wohl Beobachtungen machen; allein da ih-
nen dieser Jnstinct, dieses sympatetische Gefühl man-
gelt, mittelst dessen jene einander so schnell und zuver-
läßig ausfündig machen; oder deutlicher zu reden, da
sie von allem auf eine andre Art gerührt werden, als
jene; und sich, so sehr sie sich auch anstrengten, niemals
an ihre Stelle sezen können: so bleiben sie doch immer
in einem unbekannten Lande, wo ihre Erkenntniß nur
bey Muthmaßungen stehen bleibt, und ihre Erwartung

alle
J 3

Viertes Buch, erſtes Capitel.
wohl verſorgt hielte. Da nun Agathon ſo ſorgfaͤltig
geweſen war, ihm alles zu verbergen, was einigen
Berdacht haͤtte erweken koͤnnen, daß er jemals etwas
mehr als ein Aufwaͤrter in dem Tempel zu Delphi ge-
weſen; ſo konnte Hippias mit deſto beſſerm Grunde
vorausſezen, daß er noch ein vollkommner Neuling in der
Welt ſey, als weder die Denkungsart noch das Betra-
gen dieſes jungen Menſchen ſo beſchaffen war, daß ein
Kenner auf guͤnftigere Gedanken haͤtte gebracht werden
ſollen. Leute von ſeiner Art koͤnnen, in der That ze-
hen Jahre hinter einander in der groſſen Welt gelebt
haben, ohne daß ſie dieſes fremde und entlehnte Anſe-
hen verliehren, welches beym erſten Blik verkuͤndiget,
daß ſie hier nicht einheimiſch ſind; geſchweige, daß ſie
faͤhig waͤren, ſich jemals zu dieſer edeln Freyheit von den
Feſſeln der geſunden Vernunft, zu dieſer weiſen Gleich-
guͤltigkeit gegen alles was die ſchwaͤrmeriſchen Seelen
Empfindung nennen, und zu dieſer verzaͤrtelten Fein-
heit des Geſchmaks zu erheben, wodurch die Weltleute
ſich auf eine ſo vortheilhafte Art unterſcheiden. Solche
Leute koͤnnen wohl Beobachtungen machen; allein da ih-
nen dieſer Jnſtinct, dieſes ſympatetiſche Gefuͤhl man-
gelt, mittelſt deſſen jene einander ſo ſchnell und zuver-
laͤßig ausfuͤndig machen; oder deutlicher zu reden, da
ſie von allem auf eine andre Art geruͤhrt werden, als
jene; und ſich, ſo ſehr ſie ſich auch anſtrengten, niemals
an ihre Stelle ſezen koͤnnen: ſo bleiben ſie doch immer
in einem unbekannten Lande, wo ihre Erkenntniß nur
bey Muthmaßungen ſtehen bleibt, und ihre Erwartung

alle
J 3
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[133/0155] Viertes Buch, erſtes Capitel. wohl verſorgt hielte. Da nun Agathon ſo ſorgfaͤltig geweſen war, ihm alles zu verbergen, was einigen Berdacht haͤtte erweken koͤnnen, daß er jemals etwas mehr als ein Aufwaͤrter in dem Tempel zu Delphi ge- weſen; ſo konnte Hippias mit deſto beſſerm Grunde vorausſezen, daß er noch ein vollkommner Neuling in der Welt ſey, als weder die Denkungsart noch das Betra- gen dieſes jungen Menſchen ſo beſchaffen war, daß ein Kenner auf guͤnftigere Gedanken haͤtte gebracht werden ſollen. Leute von ſeiner Art koͤnnen, in der That ze- hen Jahre hinter einander in der groſſen Welt gelebt haben, ohne daß ſie dieſes fremde und entlehnte Anſe- hen verliehren, welches beym erſten Blik verkuͤndiget, daß ſie hier nicht einheimiſch ſind; geſchweige, daß ſie faͤhig waͤren, ſich jemals zu dieſer edeln Freyheit von den Feſſeln der geſunden Vernunft, zu dieſer weiſen Gleich- guͤltigkeit gegen alles was die ſchwaͤrmeriſchen Seelen Empfindung nennen, und zu dieſer verzaͤrtelten Fein- heit des Geſchmaks zu erheben, wodurch die Weltleute ſich auf eine ſo vortheilhafte Art unterſcheiden. Solche Leute koͤnnen wohl Beobachtungen machen; allein da ih- nen dieſer Jnſtinct, dieſes ſympatetiſche Gefuͤhl man- gelt, mittelſt deſſen jene einander ſo ſchnell und zuver- laͤßig ausfuͤndig machen; oder deutlicher zu reden, da ſie von allem auf eine andre Art geruͤhrt werden, als jene; und ſich, ſo ſehr ſie ſich auch anſtrengten, niemals an ihre Stelle ſezen koͤnnen: ſo bleiben ſie doch immer in einem unbekannten Lande, wo ihre Erkenntniß nur bey Muthmaßungen ſtehen bleibt, und ihre Erwartung alle J 3

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/155>, abgerufen am 29.03.2024.