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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
muth bemächtigte sich Agathons; er sank in ein ange-
nehmes Staunen, und freywillige Seufzer entflohen
seiner Brust, und wollüstige Thränen rollten über
seine Wangen herab. Mitten aus dieser rührenden
Harmonie erhob sich der Gesang der schönen Danae,
welche durch die eifersüchtigen Bestrebungen ihrer Ne-
benbuhlerin aufgefordert war, die ganze Vollkommen-
heit ihrer Stimme, und alle Zauberkräfte der Kunst
anzuwenden, um den Sieg gänzlich auf die Seite der
Musen zu entscheiden. Jhr Gesang schilderte die rüh-
renden Schmerzen einer wahren Liebe, die in ihrem
Schmerzen selbst ein melancholisches Vergnügen findet;
ihre standhafte Treue und die Belohnung, die sie zu-
lezt von der zärtlichsten Gegenliebe erhält. Die Art
wie sie dieses ausführte, oder vielmehr die Eindrüke,
die sie dadurch auf ihren Liebhaber machte, übertraf-
fen alles was man sich davon vorstellen kan. Sein
ganzes Wesen war Ohr, und seine ganze Seele zer-
floß in die Empfindungen, die in ihrem Gesauge herr-
scheten. Er war nicht so weit entfernt, daß Danae
nicht bemerkt hätte, wie sehr er ausser sich selbst war,
und wie viel Mühe er hatte, um sich zu halten, aus
seinem Siz sich in das Wasser herabzustürzen, zu ihr
hinüber zu schwimmen, und seine in Entzükung und
Liebe zerschmolzene Seele zu ihren Füssen auszuhau-
chen. Sie wurde durch diesen Anblik selbst so gerührt,
daß sie genöthiget war, die Augen von ihm abzuwen-
den, um ihren Gesang vollenden zu können: Allein
sie beschloß bey sich selbst, die Belohnung nicht länger

auf-

Agathon.
muth bemaͤchtigte ſich Agathons; er ſank in ein ange-
nehmes Staunen, und freywillige Seufzer entflohen
ſeiner Bruſt, und wolluͤſtige Thraͤnen rollten uͤber
ſeine Wangen herab. Mitten aus dieſer ruͤhrenden
Harmonie erhob ſich der Geſang der ſchoͤnen Danae,
welche durch die eiferſuͤchtigen Beſtrebungen ihrer Ne-
benbuhlerin aufgefordert war, die ganze Vollkommen-
heit ihrer Stimme, und alle Zauberkraͤfte der Kunſt
anzuwenden, um den Sieg gaͤnzlich auf die Seite der
Muſen zu entſcheiden. Jhr Geſang ſchilderte die ruͤh-
renden Schmerzen einer wahren Liebe, die in ihrem
Schmerzen ſelbſt ein melancholiſches Vergnuͤgen findet;
ihre ſtandhafte Treue und die Belohnung, die ſie zu-
lezt von der zaͤrtlichſten Gegenliebe erhaͤlt. Die Art
wie ſie dieſes ausfuͤhrte, oder vielmehr die Eindruͤke,
die ſie dadurch auf ihren Liebhaber machte, uͤbertraf-
fen alles was man ſich davon vorſtellen kan. Sein
ganzes Weſen war Ohr, und ſeine ganze Seele zer-
floß in die Empfindungen, die in ihrem Geſauge herr-
ſcheten. Er war nicht ſo weit entfernt, daß Danae
nicht bemerkt haͤtte, wie ſehr er auſſer ſich ſelbſt war,
und wie viel Muͤhe er hatte, um ſich zu halten, aus
ſeinem Siz ſich in das Waſſer herabzuſtuͤrzen, zu ihr
hinuͤber zu ſchwimmen, und ſeine in Entzuͤkung und
Liebe zerſchmolzene Seele zu ihren Fuͤſſen auszuhau-
chen. Sie wurde durch dieſen Anblik ſelbſt ſo geruͤhrt,
daß ſie genoͤthiget war, die Augen von ihm abzuwen-
den, um ihren Geſang vollenden zu koͤnnen: Allein
ſie beſchloß bey ſich ſelbſt, die Belohnung nicht laͤnger

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[194/0216] Agathon. muth bemaͤchtigte ſich Agathons; er ſank in ein ange- nehmes Staunen, und freywillige Seufzer entflohen ſeiner Bruſt, und wolluͤſtige Thraͤnen rollten uͤber ſeine Wangen herab. Mitten aus dieſer ruͤhrenden Harmonie erhob ſich der Geſang der ſchoͤnen Danae, welche durch die eiferſuͤchtigen Beſtrebungen ihrer Ne- benbuhlerin aufgefordert war, die ganze Vollkommen- heit ihrer Stimme, und alle Zauberkraͤfte der Kunſt anzuwenden, um den Sieg gaͤnzlich auf die Seite der Muſen zu entſcheiden. Jhr Geſang ſchilderte die ruͤh- renden Schmerzen einer wahren Liebe, die in ihrem Schmerzen ſelbſt ein melancholiſches Vergnuͤgen findet; ihre ſtandhafte Treue und die Belohnung, die ſie zu- lezt von der zaͤrtlichſten Gegenliebe erhaͤlt. Die Art wie ſie dieſes ausfuͤhrte, oder vielmehr die Eindruͤke, die ſie dadurch auf ihren Liebhaber machte, uͤbertraf- fen alles was man ſich davon vorſtellen kan. Sein ganzes Weſen war Ohr, und ſeine ganze Seele zer- floß in die Empfindungen, die in ihrem Geſauge herr- ſcheten. Er war nicht ſo weit entfernt, daß Danae nicht bemerkt haͤtte, wie ſehr er auſſer ſich ſelbſt war, und wie viel Muͤhe er hatte, um ſich zu halten, aus ſeinem Siz ſich in das Waſſer herabzuſtuͤrzen, zu ihr hinuͤber zu ſchwimmen, und ſeine in Entzuͤkung und Liebe zerſchmolzene Seele zu ihren Fuͤſſen auszuhau- chen. Sie wurde durch dieſen Anblik ſelbſt ſo geruͤhrt, daß ſie genoͤthiget war, die Augen von ihm abzuwen- den, um ihren Geſang vollenden zu koͤnnen: Allein ſie beſchloß bey ſich ſelbſt, die Belohnung nicht laͤnger auf-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/216>, abgerufen am 28.03.2024.