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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, zweytes Capitel.
nichts dabey; sie gewannen vielmehr, indem ich sie nun
in mich selbst verschloß, und die Unsterblichen allein zu
Zeugen desjenigen machte, was in meiner Seele vor-
gieng. Jch fuhr fort, die Verbesserung derselben nach
den Grundsäzen der Orphischen Philosophie mein vor-
nehmstes Geschäfte seyn zu lassen. Jch fieng nun an
zu glauben, daß keine andre als eine idealische Gemein-
schaft zwischen den Höhern Wesen und den Menschen
möglich sey; daß nichts als die Reinigkeit und Schön-
heit unsrer Seele vermögend sey, uns zu einem Ge-
genstande des Wolgefallens jenes Unnennbaren, Allge-
meinen, Obersten Geistes zu machen, von welchem alle
übrige, wie die Planeten von der Sonne, ihr Licht --
und die ganze Natur ihre Schönheit und unwandelbare
Ordnung erhalten; und daß endlich in der Uebereinstim-
mung aller unsrer Kräfte, Gedanken und geheimsten
Neigungen mit den grossen Absichten und den allgemei-
nen Gesezen dieses Beherschers der sichtbaren und un-
sichtbaren Welt, das wahre Geheimniß liege, zu derje-
nigen Vereinigung mit demselben zu gelangen, welche
ich für die natürliche Bestimmung und das lezte Ziel
aller Wünsche eines unsterblichen Wesens ansah. Bey-
des, jene geistige Schönheit der Seele und diese erha-
bene Richtung ihrer Würksamkeit nach den Absichten
des Gesezgebers der Wesen, glaubte ich am sichersten
durch die Betrachtung der Natur zu erhalten; welche
ich mir als einen Spiegel vorstellte, aus welchem das
Wesentliche, Unvergängliche und Göttliche in unsern
Geist zurükstrale, und ihn nach und nach eben so durch-

dringe
S 2

Siebentes Buch, zweytes Capitel.
nichts dabey; ſie gewannen vielmehr, indem ich ſie nun
in mich ſelbſt verſchloß, und die Unſterblichen allein zu
Zeugen desjenigen machte, was in meiner Seele vor-
gieng. Jch fuhr fort, die Verbeſſerung derſelben nach
den Grundſaͤzen der Orphiſchen Philoſophie mein vor-
nehmſtes Geſchaͤfte ſeyn zu laſſen. Jch fieng nun an
zu glauben, daß keine andre als eine idealiſche Gemein-
ſchaft zwiſchen den Hoͤhern Weſen und den Menſchen
moͤglich ſey; daß nichts als die Reinigkeit und Schoͤn-
heit unſrer Seele vermoͤgend ſey, uns zu einem Ge-
genſtande des Wolgefallens jenes Unnennbaren, Allge-
meinen, Oberſten Geiſtes zu machen, von welchem alle
uͤbrige, wie die Planeten von der Sonne, ihr Licht ‒‒
und die ganze Natur ihre Schoͤnheit und unwandelbare
Ordnung erhalten; und daß endlich in der Uebereinſtim-
mung aller unſrer Kraͤfte, Gedanken und geheimſten
Neigungen mit den groſſen Abſichten und den allgemei-
nen Geſezen dieſes Beherſchers der ſichtbaren und un-
ſichtbaren Welt, das wahre Geheimniß liege, zu derje-
nigen Vereinigung mit demſelben zu gelangen, welche
ich fuͤr die natuͤrliche Beſtimmung und das lezte Ziel
aller Wuͤnſche eines unſterblichen Weſens anſah. Bey-
des, jene geiſtige Schoͤnheit der Seele und dieſe erha-
bene Richtung ihrer Wuͤrkſamkeit nach den Abſichten
des Geſezgebers der Weſen, glaubte ich am ſicherſten
durch die Betrachtung der Natur zu erhalten; welche
ich mir als einen Spiegel vorſtellte, aus welchem das
Weſentliche, Unvergaͤngliche und Goͤttliche in unſern
Geiſt zuruͤkſtrale, und ihn nach und nach eben ſo durch-

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[275/0297] Siebentes Buch, zweytes Capitel. nichts dabey; ſie gewannen vielmehr, indem ich ſie nun in mich ſelbſt verſchloß, und die Unſterblichen allein zu Zeugen desjenigen machte, was in meiner Seele vor- gieng. Jch fuhr fort, die Verbeſſerung derſelben nach den Grundſaͤzen der Orphiſchen Philoſophie mein vor- nehmſtes Geſchaͤfte ſeyn zu laſſen. Jch fieng nun an zu glauben, daß keine andre als eine idealiſche Gemein- ſchaft zwiſchen den Hoͤhern Weſen und den Menſchen moͤglich ſey; daß nichts als die Reinigkeit und Schoͤn- heit unſrer Seele vermoͤgend ſey, uns zu einem Ge- genſtande des Wolgefallens jenes Unnennbaren, Allge- meinen, Oberſten Geiſtes zu machen, von welchem alle uͤbrige, wie die Planeten von der Sonne, ihr Licht ‒‒ und die ganze Natur ihre Schoͤnheit und unwandelbare Ordnung erhalten; und daß endlich in der Uebereinſtim- mung aller unſrer Kraͤfte, Gedanken und geheimſten Neigungen mit den groſſen Abſichten und den allgemei- nen Geſezen dieſes Beherſchers der ſichtbaren und un- ſichtbaren Welt, das wahre Geheimniß liege, zu derje- nigen Vereinigung mit demſelben zu gelangen, welche ich fuͤr die natuͤrliche Beſtimmung und das lezte Ziel aller Wuͤnſche eines unſterblichen Weſens anſah. Bey- des, jene geiſtige Schoͤnheit der Seele und dieſe erha- bene Richtung ihrer Wuͤrkſamkeit nach den Abſichten des Geſezgebers der Weſen, glaubte ich am ſicherſten durch die Betrachtung der Natur zu erhalten; welche ich mir als einen Spiegel vorſtellte, aus welchem das Weſentliche, Unvergaͤngliche und Goͤttliche in unſern Geiſt zuruͤkſtrale, und ihn nach und nach eben ſo durch- dringe S 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/297>, abgerufen am 25.04.2024.