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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834.

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in das Wesen der Poesie selbst zu setzen, die
Poesie ist nur die eine bei allen Völkern, Zeiten
und Zuständen, aber der Strahl dieser einen
Sonne bricht sich tausendfach in der geistigen At¬
mosphäre und verursacht dadurch ein buntes Far¬
benspiel von Weltpoesien, deren Verständniß, nach
Rückert's Ausdruck, allein zur Weltversöhnung
führt.

Die Geschichte der Poesie, diese Blüthe der
Geschichte der Menschheit, lehrt uns, daß jene
Gattung von Poesie, welche man die epische
nennt, bei allen Völkern die ursprünglichste und
älteste war. Für die griechische und indische Poe¬
sie ist dies außer allem Zweifel gesetzt; für die
römische hat Niebuhr es wahrscheinlich gemacht,
indem er die ganze sogenannte älteste römische
Geschichte, wie sie im Livius vorliegt, auf einen
dichterischen Sagenursprung zurückführt und stellen¬
weise in den Büchern des Livius noch die alten
rythmischen Klänge nachweist. Auch die deutsche
Poesie verräth ihren epischen Ursprung, mag man
diesen in die älteste Zeit des Augustus und der
Herrmannschlachten oder in die spätere der Völ¬
kerwanderung versetzen. Von jener ältesten ist uns
allerdings kein einziges Denkmal übrig geblieben,
allein die Nachrichten, die Tazitus in der Germa¬
nia über die Poesie der Deutschen gibt und die

in das Weſen der Poeſie ſelbſt zu ſetzen, die
Poeſie iſt nur die eine bei allen Voͤlkern, Zeiten
und Zuſtaͤnden, aber der Strahl dieſer einen
Sonne bricht ſich tauſendfach in der geiſtigen At¬
moſphaͤre und verurſacht dadurch ein buntes Far¬
benſpiel von Weltpoeſien, deren Verſtaͤndniß, nach
Ruͤckert's Ausdruck, allein zur Weltverſoͤhnung
fuͤhrt.

Die Geſchichte der Poeſie, dieſe Bluͤthe der
Geſchichte der Menſchheit, lehrt uns, daß jene
Gattung von Poeſie, welche man die epiſche
nennt, bei allen Voͤlkern die urſpruͤnglichſte und
aͤlteſte war. Fuͤr die griechiſche und indiſche Poe¬
ſie iſt dies außer allem Zweifel geſetzt; fuͤr die
roͤmiſche hat Niebuhr es wahrſcheinlich gemacht,
indem er die ganze ſogenannte aͤlteſte roͤmiſche
Geſchichte, wie ſie im Livius vorliegt, auf einen
dichteriſchen Sagenurſprung zuruͤckfuͤhrt und ſtellen¬
weiſe in den Buͤchern des Livius noch die alten
rythmiſchen Klaͤnge nachweiſt. Auch die deutſche
Poeſie verraͤth ihren epiſchen Urſprung, mag man
dieſen in die aͤlteſte Zeit des Auguſtus und der
Herrmannſchlachten oder in die ſpaͤtere der Voͤl¬
kerwanderung verſetzen. Von jener aͤlteſten iſt uns
allerdings kein einziges Denkmal uͤbrig geblieben,
allein die Nachrichten, die Tazitus in der Germa¬
nia uͤber die Poeſie der Deutſchen gibt und die

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[238/0252] in das Weſen der Poeſie ſelbſt zu ſetzen, die Poeſie iſt nur die eine bei allen Voͤlkern, Zeiten und Zuſtaͤnden, aber der Strahl dieſer einen Sonne bricht ſich tauſendfach in der geiſtigen At¬ moſphaͤre und verurſacht dadurch ein buntes Far¬ benſpiel von Weltpoeſien, deren Verſtaͤndniß, nach Ruͤckert's Ausdruck, allein zur Weltverſoͤhnung fuͤhrt. Die Geſchichte der Poeſie, dieſe Bluͤthe der Geſchichte der Menſchheit, lehrt uns, daß jene Gattung von Poeſie, welche man die epiſche nennt, bei allen Voͤlkern die urſpruͤnglichſte und aͤlteſte war. Fuͤr die griechiſche und indiſche Poe¬ ſie iſt dies außer allem Zweifel geſetzt; fuͤr die roͤmiſche hat Niebuhr es wahrſcheinlich gemacht, indem er die ganze ſogenannte aͤlteſte roͤmiſche Geſchichte, wie ſie im Livius vorliegt, auf einen dichteriſchen Sagenurſprung zuruͤckfuͤhrt und ſtellen¬ weiſe in den Buͤchern des Livius noch die alten rythmiſchen Klaͤnge nachweiſt. Auch die deutſche Poeſie verraͤth ihren epiſchen Urſprung, mag man dieſen in die aͤlteſte Zeit des Auguſtus und der Herrmannſchlachten oder in die ſpaͤtere der Voͤl¬ kerwanderung verſetzen. Von jener aͤlteſten iſt uns allerdings kein einziges Denkmal uͤbrig geblieben, allein die Nachrichten, die Tazitus in der Germa¬ nia uͤber die Poeſie der Deutſchen gibt und die

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Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/252>, abgerufen am 23.04.2024.