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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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II. 1. Die quellen der griechischen geschichte.
ritäten, und der mensch kam gar bald dahin, sich ohne bande, aber
auch ohne stütze zu fühlen. er war frei; aber er musste sich nun die
grundlagen seines lebens selbst zimmern. daher sehen wir sie alle ihren
selbstgesetzten zielen rücksichtslos zustreben. der tyrann und der phi-
losoph, der fahrende spielmann und die hetäre treiben es ein jeder in
seiner weise, und die gesellschaft gestattet es ihnen allen. jeder wird
jeden rücksichtslos zur seite stossen, um sich selbst den weg zu bahnen,
aber wer zum ziele kommt, den werden alle bewundern. damals ist es
denn geschehn, so viel wir wissen, zum ersten male, dass ein mensch
sein individuelles meinen über die geschichte seines volkes rücksichtslos
ausspricht, Hekataios von Miletos, ein mann der die welt gesehen und
dann am staatsleben tätigen anteil genommen hatte. uns erscheint seine
umformung der heldensage als altkluger rationalismus: in wahrheit ist
es der überschwang jugendlichster kritik1) und verdient als solcher wol
einen platz neben dem eifern des Xenophanes wider die mythen Homers.
wie er die zeitgeschichte behandelt hat, ob er es überhaupt ausführlicher
getan hat, ist unermittelt. eine wirkliche geschichtsschreibung konnte
bei den Ioniern nicht entstehen, weil sie keine geschichte erlebten.2)

Die befrei-
ungskriege
Die erlebten die Athener seit 510 und alle Hellenen, auf die etwas
ankommt, seit 480. die gewaltige erschütterung des kampfes um die
existenz und dann die errichtung des Reiches hat in wahrheit die geister
noch vielmehr als die leiber befreit. allein so unmittelbar konnte die
wirkung nicht sein, dass die überlieferung dieser jahrzehnte eine wirk-
lich geschichtliche hätte werden können. sie trägt noch durchweg den
stempel von sage und novelle. dass die erste noch lebendig war, wird
der glücklichen verbindung verdankt, dass ein ernstes und frommes
volk ungeheure aufgaben zu lösen erhielt und zu lösen vermochte; es

1) Er erfährt sie jetzt selbst an sich, da ihm seine Genealogien abgestritten
werden, sei es weil sie absurd wären, sei es weil in ihnen widersprüche steckten:
ganz so hatte er die heldensage geschulmeistert.
2) Dionysios von Milet hat vielleicht sein geschichtliches buch damals ge-
schrieben, das die gelehrten ta kata Dareion benannt haben. so gut wie der
Karer Skylax für Dareios eine entdeckungsfahrt macht und in griechischer sprache
darüber berichtet, konnte ein persischer untertan die persische geschichte auf grie-
chisch schreiben. dass die ionische cultur und wissenschaft in sehr vielem den
ersten platz unter den völkern ihres reiches einnahm, haben die Perser nicht ver-
kannt und der hellenisirende einfluss ist vermutlich gerade damals, ehe es einen
nationalen gegensatz gab, sehr stark gewesen, die kunstgeschichte beginnt bereits
damit zu rechnen und wird, wie auf so vielen gebieten, auch hier die rechten pfade
der allgemeinen geschichte finden und erleuchten.

II. 1. Die quellen der griechischen geschichte.
ritäten, und der mensch kam gar bald dahin, sich ohne bande, aber
auch ohne stütze zu fühlen. er war frei; aber er muſste sich nun die
grundlagen seines lebens selbst zimmern. daher sehen wir sie alle ihren
selbstgesetzten zielen rücksichtslos zustreben. der tyrann und der phi-
losoph, der fahrende spielmann und die hetäre treiben es ein jeder in
seiner weise, und die gesellschaft gestattet es ihnen allen. jeder wird
jeden rücksichtslos zur seite stoſsen, um sich selbst den weg zu bahnen,
aber wer zum ziele kommt, den werden alle bewundern. damals ist es
denn geschehn, so viel wir wissen, zum ersten male, daſs ein mensch
sein individuelles meinen über die geschichte seines volkes rücksichtslos
ausspricht, Hekataios von Miletos, ein mann der die welt gesehen und
dann am staatsleben tätigen anteil genommen hatte. uns erscheint seine
umformung der heldensage als altkluger rationalismus: in wahrheit ist
es der überschwang jugendlichster kritik1) und verdient als solcher wol
einen platz neben dem eifern des Xenophanes wider die mythen Homers.
wie er die zeitgeschichte behandelt hat, ob er es überhaupt ausführlicher
getan hat, ist unermittelt. eine wirkliche geschichtsschreibung konnte
bei den Ioniern nicht entstehen, weil sie keine geschichte erlebten.2)

Die befrei-
ungskriege
Die erlebten die Athener seit 510 und alle Hellenen, auf die etwas
ankommt, seit 480. die gewaltige erschütterung des kampfes um die
existenz und dann die errichtung des Reiches hat in wahrheit die geister
noch vielmehr als die leiber befreit. allein so unmittelbar konnte die
wirkung nicht sein, daſs die überlieferung dieser jahrzehnte eine wirk-
lich geschichtliche hätte werden können. sie trägt noch durchweg den
stempel von sage und novelle. daſs die erste noch lebendig war, wird
der glücklichen verbindung verdankt, daſs ein ernstes und frommes
volk ungeheure aufgaben zu lösen erhielt und zu lösen vermochte; es

1) Er erfährt sie jetzt selbst an sich, da ihm seine Genealogien abgestritten
werden, sei es weil sie absurd wären, sei es weil in ihnen widersprüche steckten:
ganz so hatte er die heldensage geschulmeistert.
2) Dionysios von Milet hat vielleicht sein geschichtliches buch damals ge-
schrieben, das die gelehrten τὰ κατὰ Δαϱεῖον benannt haben. so gut wie der
Karer Skylax für Dareios eine entdeckungsfahrt macht und in griechischer sprache
darüber berichtet, konnte ein persischer untertan die persische geschichte auf grie-
chisch schreiben. daſs die ionische cultur und wissenschaft in sehr vielem den
ersten platz unter den völkern ihres reiches einnahm, haben die Perser nicht ver-
kannt und der hellenisirende einfluſs ist vermutlich gerade damals, ehe es einen
nationalen gegensatz gab, sehr stark gewesen, die kunstgeschichte beginnt bereits
damit zu rechnen und wird, wie auf so vielen gebieten, auch hier die rechten pfade
der allgemeinen geschichte finden und erleuchten.
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/18>, abgerufen am 28.03.2024.