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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 12. Isokrates Panegyrikos 100--114.
urteils. es ist dieselbe ehedem notwendige jetzt nicht mehr existenz-
berechtigte enge des horizonts, die für Demosthenes in einer abstracten
moralischen bewunderung erstarb, in Isokrates aber nur den schönredner
sah. der advocat und parlamentarier wird moralisch verlieren, der
publicist an bedeutung gewinnen: dagegen der rednergrösse beider wird
kein abbruch getan, wenn wir die menschen menschlich, die Hellenen
hellenisch sehen.

Veran-
lassung der
rede.
Thrasybulos von Steiria hatte es 390 versucht, das Reich zu er-
neuern, mit unzulänglichen mitteln und in demselben braven aber be-
schränkten glauben, dass in der demokratischen reichspolitik des fünften
jahrhunderts das alleinige heil läge, in dem er seiner meinung nach
das vaterland 403 gerettet hatte. und wirklich machte es einen ge-
waltigen eindruck, als endlich einmal wieder eine athenische flotte in
den gewässern erschien, die sie einst beherrscht hatte. aber wenn
Thrasybulos an die zeiten vor 412 anknüpfte, so beschwor er damit
selbst die coalition zwischen Persien und Sparta herauf, und ein wirklicher
staatsmann hätte für diesen fall gerüstet sein müssen; sein plötzlicher
tod vor dem feinde war für Thrasybulos ein glück. zu hause hatte man
sich den ausschweifendsten hoffnungen hingegeben, und 388 führte
Aristophanes, der alt und ehrbar geworden war3), einen alten schwank
wieder auf, der die wiederkehr des Reichtums sehr verfrüht feierte.
wenn der gott Plutos gekommen wäre und hätte nur dies aristophanische
gesindel in Athen gefunden, das an den eigenen geldbeutel und nicht
an den schatz der burg denkt, so würde er es nicht lange auf erden
ausgehalten haben. aber er kam nicht. an den Olympien desselben
jahres erlaubte sich der sophist Lysias die törichte demonstration, den
seit jahren einander bekriegenden Hellenen eine gemeinsame intervention
zu gunsten der befreiung Siciliens von dem joche des Dionysios vor-
zuschlagen, des mannes, ohne dessen energie Sicilien längst karthagisch
gewesen wäre. Lysias war syrakusanischer herkunft und seit 403, so
weit die advocatur ihn nicht bestimmte andere töne anzuschlagen, mit
der radicalen partei in Athen eng verbunden, ohne doch je eine per-
sönliche geltung zu gewinnen. in wie weit er mit dieser rede be-
stellte arbeit lieferte, mag dahinstehn: Dionysios hatte jedenfalls das
recht, die leitende radicale partei Athens für diese tactlosigkeit ver-

3) Er hat es sogar bis zum ratsherrn gebracht, denn ich sehe nicht ab, warum
wir einen gleichnamigen verwandten in dem prytanen Aristophanes Kudathenaieus
sehen sollen, CIA II 865. die überlieferung des steines lässt allerdings kein sicheres
urteil über sein alter zu.

III. 12. Isokrates Panegyrikos 100—114.
urteils. es ist dieselbe ehedem notwendige jetzt nicht mehr existenz-
berechtigte enge des horizonts, die für Demosthenes in einer abstracten
moralischen bewunderung erstarb, in Isokrates aber nur den schönredner
sah. der advocat und parlamentarier wird moralisch verlieren, der
publicist an bedeutung gewinnen: dagegen der rednergröſse beider wird
kein abbruch getan, wenn wir die menschen menschlich, die Hellenen
hellenisch sehen.

Veran-
lassung der
rede.
Thrasybulos von Steiria hatte es 390 versucht, das Reich zu er-
neuern, mit unzulänglichen mitteln und in demselben braven aber be-
schränkten glauben, daſs in der demokratischen reichspolitik des fünften
jahrhunderts das alleinige heil läge, in dem er seiner meinung nach
das vaterland 403 gerettet hatte. und wirklich machte es einen ge-
waltigen eindruck, als endlich einmal wieder eine athenische flotte in
den gewässern erschien, die sie einst beherrscht hatte. aber wenn
Thrasybulos an die zeiten vor 412 anknüpfte, so beschwor er damit
selbst die coalition zwischen Persien und Sparta herauf, und ein wirklicher
staatsmann hätte für diesen fall gerüstet sein müssen; sein plötzlicher
tod vor dem feinde war für Thrasybulos ein glück. zu hause hatte man
sich den ausschweifendsten hoffnungen hingegeben, und 388 führte
Aristophanes, der alt und ehrbar geworden war3), einen alten schwank
wieder auf, der die wiederkehr des Reichtums sehr verfrüht feierte.
wenn der gott Plutos gekommen wäre und hätte nur dies aristophanische
gesindel in Athen gefunden, das an den eigenen geldbeutel und nicht
an den schatz der burg denkt, so würde er es nicht lange auf erden
ausgehalten haben. aber er kam nicht. an den Olympien desselben
jahres erlaubte sich der sophist Lysias die törichte demonstration, den
seit jahren einander bekriegenden Hellenen eine gemeinsame intervention
zu gunsten der befreiung Siciliens von dem joche des Dionysios vor-
zuschlagen, des mannes, ohne dessen energie Sicilien längst karthagisch
gewesen wäre. Lysias war syrakusanischer herkunft und seit 403, so
weit die advocatur ihn nicht bestimmte andere töne anzuschlagen, mit
der radicalen partei in Athen eng verbunden, ohne doch je eine per-
sönliche geltung zu gewinnen. in wie weit er mit dieser rede be-
stellte arbeit lieferte, mag dahinstehn: Dionysios hatte jedenfalls das
recht, die leitende radicale partei Athens für diese tactlosigkeit ver-

3) Er hat es sogar bis zum ratsherrn gebracht, denn ich sehe nicht ab, warum
wir einen gleichnamigen verwandten in dem prytanen Ἀϱιστοφάνης Κυδαϑηναιεύς
sehen sollen, CIA II 865. die überlieferung des steines läſst allerdings kein sicheres
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[382/0392] III. 12. Isokrates Panegyrikos 100—114. urteils. es ist dieselbe ehedem notwendige jetzt nicht mehr existenz- berechtigte enge des horizonts, die für Demosthenes in einer abstracten moralischen bewunderung erstarb, in Isokrates aber nur den schönredner sah. der advocat und parlamentarier wird moralisch verlieren, der publicist an bedeutung gewinnen: dagegen der rednergröſse beider wird kein abbruch getan, wenn wir die menschen menschlich, die Hellenen hellenisch sehen. Thrasybulos von Steiria hatte es 390 versucht, das Reich zu er- neuern, mit unzulänglichen mitteln und in demselben braven aber be- schränkten glauben, daſs in der demokratischen reichspolitik des fünften jahrhunderts das alleinige heil läge, in dem er seiner meinung nach das vaterland 403 gerettet hatte. und wirklich machte es einen ge- waltigen eindruck, als endlich einmal wieder eine athenische flotte in den gewässern erschien, die sie einst beherrscht hatte. aber wenn Thrasybulos an die zeiten vor 412 anknüpfte, so beschwor er damit selbst die coalition zwischen Persien und Sparta herauf, und ein wirklicher staatsmann hätte für diesen fall gerüstet sein müssen; sein plötzlicher tod vor dem feinde war für Thrasybulos ein glück. zu hause hatte man sich den ausschweifendsten hoffnungen hingegeben, und 388 führte Aristophanes, der alt und ehrbar geworden war 3), einen alten schwank wieder auf, der die wiederkehr des Reichtums sehr verfrüht feierte. wenn der gott Plutos gekommen wäre und hätte nur dies aristophanische gesindel in Athen gefunden, das an den eigenen geldbeutel und nicht an den schatz der burg denkt, so würde er es nicht lange auf erden ausgehalten haben. aber er kam nicht. an den Olympien desselben jahres erlaubte sich der sophist Lysias die törichte demonstration, den seit jahren einander bekriegenden Hellenen eine gemeinsame intervention zu gunsten der befreiung Siciliens von dem joche des Dionysios vor- zuschlagen, des mannes, ohne dessen energie Sicilien längst karthagisch gewesen wäre. Lysias war syrakusanischer herkunft und seit 403, so weit die advocatur ihn nicht bestimmte andere töne anzuschlagen, mit der radicalen partei in Athen eng verbunden, ohne doch je eine per- sönliche geltung zu gewinnen. in wie weit er mit dieser rede be- stellte arbeit lieferte, mag dahinstehn: Dionysios hatte jedenfalls das recht, die leitende radicale partei Athens für diese tactlosigkeit ver- Veran- lassung der rede. 3) Er hat es sogar bis zum ratsherrn gebracht, denn ich sehe nicht ab, warum wir einen gleichnamigen verwandten in dem prytanen Ἀϱιστοφάνης Κυδαϑηναιεύς sehen sollen, CIA II 865. die überlieferung des steines läſst allerdings kein sicheres urteil über sein alter zu.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/392>, abgerufen am 29.03.2024.