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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 13. Die briefe des Isokrates.
sind, steht nicht in fälschungen, es sei denn, dass sie anderen zwecken
dienen als sie zur schau tragen. davon ist hier keine rede. es finden
sich in diesen briefen ähnliche wendungen (7, 11 = 8, 10): aber das ist
nicht wunderbar. wenn er diese geschrieben hat, müssen wir dem Iso-
krates doch zutrauen, dass er solche schriftstücke sehr zahlreich hat aus-
gehn lassen. sie sind viel merkwürdiger als der brief an Dionysios.
denn jener war nichts anderes als der Philippos auch, ein sumbouleutikos
logos in der form einer zuschrift, also ohne die fiction der mündlichen an-
sprache, nur in sofern ein brief. die kunstform ist die der rede. in diesem
sinne ist das dritte pythische gedicht des Pindaros auch ein brief, in der form
gleichwol von dem ersten und allen andern chorischen liedern des dichters
nicht verschieden. dagegen die empfehlungsschreiben sind briefe, epi-
stolai im vollen sinne des wortes. da ist es nun eine für die griechische
stilistik unschätzbare tatsache, dass Isokrates seinen rhetorischen stil auch
für den brief angewandt hat. er hat nicht begriffen, dass der brief als
eine vertrauliche und improvisirte äusserung erst dann gut geschrieben ist,
wenn er für das lesen geschrieben ist, nicht das hören, wenn er von
der stilisirten rede sich kat eidos unterscheidet. stilistisch betrachtet
sind es gar keine briefe. trotzdem dass Platon sowol in der theorie wie
in der praxis gezeigt hatte, dass selbst das gespräch als kunstform neben
der älteren ansprache gleich oder höher berechtigt stünde, hat der sophist
nicht begreifen wollen, dass seine schönredekunst kein allerweltsorgan wäre.
nur die dürftigkeit und stillosigkeit braucht eigentlich handwerkzeuge
wie den 'bratspiessleuchter' und 'das delphische messer' 1): so pflegt der
deutsche jetzt dieselbe stillose rede mit mund und feder zu führen; er
sieht darin wo möglich objectivität und biederkeit, dass er überhaupt
formlos bleibt. aber besser ist das allerdings, als der bei den Hellenen
von Gorgias bis Rhangabis immer wieder auftauchende wahn, dass eine
bestimmte, allerdings bewunderungswerte, kunstform die ganze prosa be-
herrschen dürfte. der ohne frage vollkommenste vertreter dieser ansicht
ist Isokrates, und er ist sich dessen wol bewusst gewesen: die in Platon
verkörperte höhere auffassung, der es gelang die gesprochene rede in
allen ihren tönen zu treffen, immer vollendet und immer anders stili-
sirt, hat er im Panathenaikos auch zu überbieten versucht. so hat er
also auch briefe geschrieben, und wir sehen ja, dass kein geringerer als
könig Philippos für seine diplomatische correspondenz sich an diese stil-

1) Aristoteles Politik D 1299b. A 1252b ouden e phusis poiei toiouton oion
oi khalkotupoi ten Delphiken makhairan, penikhros, all en pros en.

III. 13. Die briefe des Isokrates.
sind, steht nicht in fälschungen, es sei denn, daſs sie anderen zwecken
dienen als sie zur schau tragen. davon ist hier keine rede. es finden
sich in diesen briefen ähnliche wendungen (7, 11 = 8, 10): aber das ist
nicht wunderbar. wenn er diese geschrieben hat, müssen wir dem Iso-
krates doch zutrauen, daſs er solche schriftstücke sehr zahlreich hat aus-
gehn lassen. sie sind viel merkwürdiger als der brief an Dionysios.
denn jener war nichts anderes als der Philippos auch, ein συμβουλευτικὸς
λόγος in der form einer zuschrift, also ohne die fiction der mündlichen an-
sprache, nur in sofern ein brief. die kunstform ist die der rede. in diesem
sinne ist das dritte pythische gedicht des Pindaros auch ein brief, in der form
gleichwol von dem ersten und allen andern chorischen liedern des dichters
nicht verschieden. dagegen die empfehlungsschreiben sind briefe, ἐπι-
στολαί im vollen sinne des wortes. da ist es nun eine für die griechische
stilistik unschätzbare tatsache, daſs Isokrates seinen rhetorischen stil auch
für den brief angewandt hat. er hat nicht begriffen, daſs der brief als
eine vertrauliche und improvisirte äuſserung erst dann gut geschrieben ist,
wenn er für das lesen geschrieben ist, nicht das hören, wenn er von
der stilisirten rede sich κατ̕ εἶδος unterscheidet. stilistisch betrachtet
sind es gar keine briefe. trotzdem daſs Platon sowol in der theorie wie
in der praxis gezeigt hatte, daſs selbst das gespräch als kunstform neben
der älteren ansprache gleich oder höher berechtigt stünde, hat der sophist
nicht begreifen wollen, daſs seine schönredekunst kein allerweltsorgan wäre.
nur die dürftigkeit und stillosigkeit braucht eigentlich handwerkzeuge
wie den ‘bratspieſsleuchter’ und ‘das delphische messer’ 1): so pflegt der
deutsche jetzt dieselbe stillose rede mit mund und feder zu führen; er
sieht darin wo möglich objectivität und biederkeit, daſs er überhaupt
formlos bleibt. aber besser ist das allerdings, als der bei den Hellenen
von Gorgias bis Rhangabis immer wieder auftauchende wahn, daſs eine
bestimmte, allerdings bewunderungswerte, kunstform die ganze prosa be-
herrschen dürfte. der ohne frage vollkommenste vertreter dieser ansicht
ist Isokrates, und er ist sich dessen wol bewuſst gewesen: die in Platon
verkörperte höhere auffassung, der es gelang die gesprochene rede in
allen ihren tönen zu treffen, immer vollendet und immer anders stili-
sirt, hat er im Panathenaikos auch zu überbieten versucht. so hat er
also auch briefe geschrieben, und wir sehen ja, daſs kein geringerer als
könig Philippos für seine diplomatische correspondenz sich an diese stil-

1) Aristoteles Politik Δ 1299b. Α 1252b οὐδὲν ἡ φύσις ποιεῖ τοιοῦτον οἷον
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[392/0402] III. 13. Die briefe des Isokrates. sind, steht nicht in fälschungen, es sei denn, daſs sie anderen zwecken dienen als sie zur schau tragen. davon ist hier keine rede. es finden sich in diesen briefen ähnliche wendungen (7, 11 = 8, 10): aber das ist nicht wunderbar. wenn er diese geschrieben hat, müssen wir dem Iso- krates doch zutrauen, daſs er solche schriftstücke sehr zahlreich hat aus- gehn lassen. sie sind viel merkwürdiger als der brief an Dionysios. denn jener war nichts anderes als der Philippos auch, ein συμβουλευτικὸς λόγος in der form einer zuschrift, also ohne die fiction der mündlichen an- sprache, nur in sofern ein brief. die kunstform ist die der rede. in diesem sinne ist das dritte pythische gedicht des Pindaros auch ein brief, in der form gleichwol von dem ersten und allen andern chorischen liedern des dichters nicht verschieden. dagegen die empfehlungsschreiben sind briefe, ἐπι- στολαί im vollen sinne des wortes. da ist es nun eine für die griechische stilistik unschätzbare tatsache, daſs Isokrates seinen rhetorischen stil auch für den brief angewandt hat. er hat nicht begriffen, daſs der brief als eine vertrauliche und improvisirte äuſserung erst dann gut geschrieben ist, wenn er für das lesen geschrieben ist, nicht das hören, wenn er von der stilisirten rede sich κατ̕ εἶδος unterscheidet. stilistisch betrachtet sind es gar keine briefe. trotzdem daſs Platon sowol in der theorie wie in der praxis gezeigt hatte, daſs selbst das gespräch als kunstform neben der älteren ansprache gleich oder höher berechtigt stünde, hat der sophist nicht begreifen wollen, daſs seine schönredekunst kein allerweltsorgan wäre. nur die dürftigkeit und stillosigkeit braucht eigentlich handwerkzeuge wie den ‘bratspieſsleuchter’ und ‘das delphische messer’ 1): so pflegt der deutsche jetzt dieselbe stillose rede mit mund und feder zu führen; er sieht darin wo möglich objectivität und biederkeit, daſs er überhaupt formlos bleibt. aber besser ist das allerdings, als der bei den Hellenen von Gorgias bis Rhangabis immer wieder auftauchende wahn, daſs eine bestimmte, allerdings bewunderungswerte, kunstform die ganze prosa be- herrschen dürfte. der ohne frage vollkommenste vertreter dieser ansicht ist Isokrates, und er ist sich dessen wol bewuſst gewesen: die in Platon verkörperte höhere auffassung, der es gelang die gesprochene rede in allen ihren tönen zu treffen, immer vollendet und immer anders stili- sirt, hat er im Panathenaikos auch zu überbieten versucht. so hat er also auch briefe geschrieben, und wir sehen ja, daſs kein geringerer als könig Philippos für seine diplomatische correspondenz sich an diese stil- 1) Aristoteles Politik Δ 1299b. Α 1252b οὐδὲν ἡ φύσις ποιεῖ τοιοῦτον οἷον οἱ χαλκοτύποι τὴν Δελφικὴν μάχαιϱαν, πενιχϱῶς, ἀλλ̕ ἓν πϱὸς ἕν.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/402>, abgerufen am 28.03.2024.