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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Das leben des Euripides.
wenn sie keine pointe haben. aber das schweigen des Aristophanes gibt
den ausschlag: wir müssen urteilen, der tod durch die hunde hätte zwar
passiren können, aber er ist nicht passirt.

Geistige ent-
wickelung

Dies der äussere lebensgang; aber bei dem geistig wirkenden sind
die inneren erlebnisse unendlich wichtiger, und vielleicht ist überhaupt
an dem einzelnen menschen das merkwürdigste nicht, wie er als vollen-
deter erscheint, sondern wie er ward; wie denn selbstbiographien, selbst
wenn sie schlecht sind, soweit interessiren, als sie entwickelungsgeschichte
darstellen. die entwickelung ist für den animalischen menschen fertig,
wenn der körper vollausgereift ist, und bei dem durchschnitt ist dann
auch die geistige entwickelung auf ihrem höhepunkt. die bedeutung des
menschen aber bemisst sich danach, wie spät er klug wird, und es ist
ein zeichen der geistigen kraft unseres deutschesten stammes, dass er
wie die Hellenen dazu 40 jahre brauchen soll. in wahrheit bringen wol
nur die allerhöchststehenden sterblichen die entwickelungsperiode zu
solcher dauer. bei Goethe und bei Platon macht allerdings das vierzigste
jahr epoche: da erst sind sie fertig. aber es ist schon viel, wenn wie
bei Dante nel mezzo del cammin di nostra vita der tag kommt, wo alles
was uns zu schaffen auferlegt ist, dunamei getan ist, so dass das weitere
leben nur noch mit dem umsetzen in die energie zu tun hat. es liesse
sich darüber viel sagen 30); das gerasko aiei polla didaskomenos hat
seine wahrheit, aber der andere spruch auch, dass der mensch nur lernt
was er lernen kann: und der fertige mensch kann nun einmal nur äusser-
liches umlernen, er hat vielmehr auszugeben was er in sich trägt, viel-
leicht nur als keim, sich selbst kaum bewusst, aber wenn er es nachher
von sich gibt und es anderen neu erscheint, so ist es ihm doch ein lang-
bekanntes, und wenn die nachwelt ein leben so genau übersehen kann
wie wir es mit dem Goethes tun, so kann sie auch beweisen, dass dem
so ist, und dass die Wanderjahre schon concipirt waren, ehe die Lehrjahre
erschienen. wie jämmerlich steht es da nun mit dem was wir von den
antiken menschen wissen können! Platons entwickelung zu übersehen
würde einen ähnlichen reichtum von psychologischer belehrung bieten
wie die Goethes. jetzt sehen wir die widersprüche, die in einer solchen

30) Glücklich, wen die götter wegrufen, wenn er fertig ist, wie Eupolis, wäh-
rend Aristophanes bis zu den Ekklesiazusen sinken musste, wie Catull, wie A. de
Musset und Byron; weise, wer sich selbst bescheidet, wenn er nichts mehr zu geben
hat, wie Kallimachos (wahrscheinlich), Horaz, Uhland: aber sich selbst zum gericht
lebt, wer den alten jugendton immer weiter pfeift, überhört oder durch die schrille
ausgesungene stimme nur verletzend, wie Ovid, wie Klopstock, dessen geistige ent-
wickelung über die eines grünen jünglings nicht hinauskam, und H. Heine.

Das leben des Euripides.
wenn sie keine pointe haben. aber das schweigen des Aristophanes gibt
den ausschlag: wir müssen urteilen, der tod durch die hunde hätte zwar
passiren können, aber er ist nicht passirt.

Geistige ent-
wickelung

Dies der äuſsere lebensgang; aber bei dem geistig wirkenden sind
die inneren erlebnisse unendlich wichtiger, und vielleicht ist überhaupt
an dem einzelnen menschen das merkwürdigste nicht, wie er als vollen-
deter erscheint, sondern wie er ward; wie denn selbstbiographien, selbst
wenn sie schlecht sind, soweit interessiren, als sie entwickelungsgeschichte
darstellen. die entwickelung ist für den animalischen menschen fertig,
wenn der körper vollausgereift ist, und bei dem durchschnitt ist dann
auch die geistige entwickelung auf ihrem höhepunkt. die bedeutung des
menschen aber bemiſst sich danach, wie spät er klug wird, und es ist
ein zeichen der geistigen kraft unseres deutschesten stammes, daſs er
wie die Hellenen dazu 40 jahre brauchen soll. in wahrheit bringen wol
nur die allerhöchststehenden sterblichen die entwickelungsperiode zu
solcher dauer. bei Goethe und bei Platon macht allerdings das vierzigste
jahr epoche: da erst sind sie fertig. aber es ist schon viel, wenn wie
bei Dante nel mezzo del cammin di nostra vita der tag kommt, wo alles
was uns zu schaffen auferlegt ist, δυνάμει getan ist, so daſs das weitere
leben nur noch mit dem umsetzen in die energie zu tun hat. es lieſse
sich darüber viel sagen 30); das γηράσκω αἰεὶ πολλὰ διδασκόμενος hat
seine wahrheit, aber der andere spruch auch, daſs der mensch nur lernt
was er lernen kann: und der fertige mensch kann nun einmal nur äuſser-
liches umlernen, er hat vielmehr auszugeben was er in sich trägt, viel-
leicht nur als keim, sich selbst kaum bewuſst, aber wenn er es nachher
von sich gibt und es anderen neu erscheint, so ist es ihm doch ein lang-
bekanntes, und wenn die nachwelt ein leben so genau übersehen kann
wie wir es mit dem Goethes tun, so kann sie auch beweisen, daſs dem
so ist, und daſs die Wanderjahre schon concipirt waren, ehe die Lehrjahre
erschienen. wie jämmerlich steht es da nun mit dem was wir von den
antiken menschen wissen können! Platons entwickelung zu übersehen
würde einen ähnlichen reichtum von psychologischer belehrung bieten
wie die Goethes. jetzt sehen wir die widersprüche, die in einer solchen

30) Glücklich, wen die götter wegrufen, wenn er fertig ist, wie Eupolis, wäh-
rend Aristophanes bis zu den Ekklesiazusen sinken muſste, wie Catull, wie A. de
Musset und Byron; weise, wer sich selbst bescheidet, wenn er nichts mehr zu geben
hat, wie Kallimachos (wahrscheinlich), Horaz, Uhland: aber sich selbst zum gericht
lebt, wer den alten jugendton immer weiter pfeift, überhört oder durch die schrille
ausgesungene stimme nur verletzend, wie Ovid, wie Klopstock, dessen geistige ent-
wickelung über die eines grünen jünglings nicht hinauskam, und H. Heine.
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[18/0038] Das leben des Euripides. wenn sie keine pointe haben. aber das schweigen des Aristophanes gibt den ausschlag: wir müssen urteilen, der tod durch die hunde hätte zwar passiren können, aber er ist nicht passirt. Dies der äuſsere lebensgang; aber bei dem geistig wirkenden sind die inneren erlebnisse unendlich wichtiger, und vielleicht ist überhaupt an dem einzelnen menschen das merkwürdigste nicht, wie er als vollen- deter erscheint, sondern wie er ward; wie denn selbstbiographien, selbst wenn sie schlecht sind, soweit interessiren, als sie entwickelungsgeschichte darstellen. die entwickelung ist für den animalischen menschen fertig, wenn der körper vollausgereift ist, und bei dem durchschnitt ist dann auch die geistige entwickelung auf ihrem höhepunkt. die bedeutung des menschen aber bemiſst sich danach, wie spät er klug wird, und es ist ein zeichen der geistigen kraft unseres deutschesten stammes, daſs er wie die Hellenen dazu 40 jahre brauchen soll. in wahrheit bringen wol nur die allerhöchststehenden sterblichen die entwickelungsperiode zu solcher dauer. bei Goethe und bei Platon macht allerdings das vierzigste jahr epoche: da erst sind sie fertig. aber es ist schon viel, wenn wie bei Dante nel mezzo del cammin di nostra vita der tag kommt, wo alles was uns zu schaffen auferlegt ist, δυνάμει getan ist, so daſs das weitere leben nur noch mit dem umsetzen in die energie zu tun hat. es lieſse sich darüber viel sagen 30); das γηράσκω αἰεὶ πολλὰ διδασκόμενος hat seine wahrheit, aber der andere spruch auch, daſs der mensch nur lernt was er lernen kann: und der fertige mensch kann nun einmal nur äuſser- liches umlernen, er hat vielmehr auszugeben was er in sich trägt, viel- leicht nur als keim, sich selbst kaum bewuſst, aber wenn er es nachher von sich gibt und es anderen neu erscheint, so ist es ihm doch ein lang- bekanntes, und wenn die nachwelt ein leben so genau übersehen kann wie wir es mit dem Goethes tun, so kann sie auch beweisen, daſs dem so ist, und daſs die Wanderjahre schon concipirt waren, ehe die Lehrjahre erschienen. wie jämmerlich steht es da nun mit dem was wir von den antiken menschen wissen können! Platons entwickelung zu übersehen würde einen ähnlichen reichtum von psychologischer belehrung bieten wie die Goethes. jetzt sehen wir die widersprüche, die in einer solchen 30) Glücklich, wen die götter wegrufen, wenn er fertig ist, wie Eupolis, wäh- rend Aristophanes bis zu den Ekklesiazusen sinken muſste, wie Catull, wie A. de Musset und Byron; weise, wer sich selbst bescheidet, wenn er nichts mehr zu geben hat, wie Kallimachos (wahrscheinlich), Horaz, Uhland: aber sich selbst zum gericht lebt, wer den alten jugendton immer weiter pfeift, überhört oder durch die schrille ausgesungene stimme nur verletzend, wie Ovid, wie Klopstock, dessen geistige ent- wickelung über die eines grünen jünglings nicht hinauskam, und H. Heine.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/38>, abgerufen am 28.03.2024.