Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

men Otto, war des Vaters Ebenbild, das Mädchen französisch Leonie genannt, und beide einander so unähnlich, als es Bruder und Schwester nur je gewesen sind, doch beide schon, scheu und fremd, denen das deutsche Wort nur gebrochen von den weichen Lippen floß.

Dieser letzte Umstand änderte sich jedoch bald, und dadurch fiel die eine Scheidewand zwischen dem Dorfe und dem gräflichen Hause weg. Denn trotz seines Stolzes, duldete der Graf, daß seine Kinder sich in ungestörter Freiheit mit den Kindern der Bauern herumtrieben. Sie hatten freilich auch keinen andern Umgang. Ihr Vater schloss sich von dem benachbarten Adel, der ihm zuerst freundlich entgegenkam, so viel als möglich ab; man hielt seine Absonderung für Theilnahme an den neufranzösischen Ideen, er wurde auch in diesen Kreisen unlieb, und so stand er bald ganz allein.

Bei dieser Abgeschlossenheit befanden sich die Kinder ganz wohl. Mit Büchern und Anstandsvorschriften wurden sie wenig geplagt. Ihr Unterricht beschränkte sich auf das, was sie vom Schulmeister und vom Pfarrer lernen konnten, woran sich für Leonie ein besonderer Cursus in kleinen Handarbeiten und sonstigen weiblichen Beschäftigungen unter den Augen der Frau Pfarrerin schloss.

Wir können nicht sagen, das unsere kleine Heldin diesen Arbeiten besonders geneigt war; sie liebte den Musikgang, sie liebte überhaupt Alles, was ihre kleine Person mit Behaglichkeit umgab, und nur wenn sich mit einer Beschäftigung irgend ein Zweck, ein Interesse verband, verwandelte sich oft plötzlich ihre träge Natur in starre Unermüdlichkeit und seltene Energie. Die Pfarrerin selbst war eine gute, sanfte Frau, die das mutterlose Mädchen seiner Mutterlosigkeit wegen schnell lieb gewann und, da sie selbst keine Kinder hatte, es gerne um sich sah; und Leonie war gerne dort, denn sie fühlte sich geliebt. Lieber aber war sie noch, wo es minder ruhig herging, denn, ohne selbst lärmend

men Otto, war des Vaters Ebenbild, das Mädchen französisch Leonie genannt, und beide einander so unähnlich, als es Bruder und Schwester nur je gewesen sind, doch beide schon, scheu und fremd, denen das deutsche Wort nur gebrochen von den weichen Lippen floß.

Dieser letzte Umstand änderte sich jedoch bald, und dadurch fiel die eine Scheidewand zwischen dem Dorfe und dem gräflichen Hause weg. Denn trotz seines Stolzes, duldete der Graf, daß seine Kinder sich in ungestörter Freiheit mit den Kindern der Bauern herumtrieben. Sie hatten freilich auch keinen andern Umgang. Ihr Vater schloss sich von dem benachbarten Adel, der ihm zuerst freundlich entgegenkam, so viel als möglich ab; man hielt seine Absonderung für Theilnahme an den neufranzösischen Ideen, er wurde auch in diesen Kreisen unlieb, und so stand er bald ganz allein.

Bei dieser Abgeschlossenheit befanden sich die Kinder ganz wohl. Mit Büchern und Anstandsvorschriften wurden sie wenig geplagt. Ihr Unterricht beschränkte sich auf das, was sie vom Schulmeister und vom Pfarrer lernen konnten, woran sich für Leonie ein besonderer Cursus in kleinen Handarbeiten und sonstigen weiblichen Beschäftigungen unter den Augen der Frau Pfarrerin schloss.

Wir können nicht sagen, das unsere kleine Heldin diesen Arbeiten besonders geneigt war; sie liebte den Musikgang, sie liebte überhaupt Alles, was ihre kleine Person mit Behaglichkeit umgab, und nur wenn sich mit einer Beschäftigung irgend ein Zweck, ein Interesse verband, verwandelte sich oft plötzlich ihre träge Natur in starre Unermüdlichkeit und seltene Energie. Die Pfarrerin selbst war eine gute, sanfte Frau, die das mutterlose Mädchen seiner Mutterlosigkeit wegen schnell lieb gewann und, da sie selbst keine Kinder hatte, es gerne um sich sah; und Leonie war gerne dort, denn sie fühlte sich geliebt. Lieber aber war sie noch, wo es minder ruhig herging, denn, ohne selbst lärmend

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0008"/>
men Otto, war des Vaters Ebenbild, das      Mädchen französisch Leonie genannt, und beide einander so unähnlich, als es Bruder und      Schwester nur je gewesen sind, doch beide schon, scheu und fremd, denen das deutsche Wort nur      gebrochen von den weichen Lippen floß.</p><lb/>
        <p>Dieser letzte Umstand änderte sich jedoch bald, und dadurch fiel die eine Scheidewand      zwischen dem Dorfe und dem gräflichen Hause weg. Denn trotz seines Stolzes, duldete der Graf,      daß seine Kinder sich in ungestörter Freiheit mit den Kindern der Bauern herumtrieben. Sie      hatten freilich auch keinen andern Umgang. Ihr Vater schloss sich von dem benachbarten Adel,      der ihm zuerst freundlich entgegenkam, so viel als möglich ab; man hielt seine Absonderung für      Theilnahme an den neufranzösischen Ideen, er wurde auch in diesen Kreisen unlieb, und so stand      er bald ganz allein.</p><lb/>
        <p>Bei dieser Abgeschlossenheit befanden sich die Kinder ganz wohl. Mit Büchern und      Anstandsvorschriften wurden sie wenig geplagt. Ihr Unterricht beschränkte sich auf das, was sie      vom Schulmeister und vom Pfarrer lernen konnten, woran sich für Leonie ein besonderer Cursus in      kleinen Handarbeiten und sonstigen weiblichen Beschäftigungen unter den Augen der Frau      Pfarrerin schloss.</p><lb/>
        <p>Wir können nicht sagen, das unsere kleine Heldin diesen Arbeiten besonders geneigt war; sie      liebte den Musikgang, sie liebte überhaupt Alles, was ihre kleine Person mit Behaglichkeit      umgab, und nur wenn sich mit einer Beschäftigung irgend ein Zweck, ein Interesse verband,      verwandelte sich oft plötzlich ihre träge Natur in starre Unermüdlichkeit und seltene Energie.      Die Pfarrerin selbst war eine gute, sanfte Frau, die das mutterlose Mädchen seiner      Mutterlosigkeit wegen schnell lieb gewann und, da sie selbst keine Kinder hatte, es gerne um      sich sah; und Leonie war gerne dort, denn sie fühlte sich geliebt. Lieber aber war sie noch, wo      es minder ruhig herging, denn, ohne selbst lärmend<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0008] men Otto, war des Vaters Ebenbild, das Mädchen französisch Leonie genannt, und beide einander so unähnlich, als es Bruder und Schwester nur je gewesen sind, doch beide schon, scheu und fremd, denen das deutsche Wort nur gebrochen von den weichen Lippen floß. Dieser letzte Umstand änderte sich jedoch bald, und dadurch fiel die eine Scheidewand zwischen dem Dorfe und dem gräflichen Hause weg. Denn trotz seines Stolzes, duldete der Graf, daß seine Kinder sich in ungestörter Freiheit mit den Kindern der Bauern herumtrieben. Sie hatten freilich auch keinen andern Umgang. Ihr Vater schloss sich von dem benachbarten Adel, der ihm zuerst freundlich entgegenkam, so viel als möglich ab; man hielt seine Absonderung für Theilnahme an den neufranzösischen Ideen, er wurde auch in diesen Kreisen unlieb, und so stand er bald ganz allein. Bei dieser Abgeschlossenheit befanden sich die Kinder ganz wohl. Mit Büchern und Anstandsvorschriften wurden sie wenig geplagt. Ihr Unterricht beschränkte sich auf das, was sie vom Schulmeister und vom Pfarrer lernen konnten, woran sich für Leonie ein besonderer Cursus in kleinen Handarbeiten und sonstigen weiblichen Beschäftigungen unter den Augen der Frau Pfarrerin schloss. Wir können nicht sagen, das unsere kleine Heldin diesen Arbeiten besonders geneigt war; sie liebte den Musikgang, sie liebte überhaupt Alles, was ihre kleine Person mit Behaglichkeit umgab, und nur wenn sich mit einer Beschäftigung irgend ein Zweck, ein Interesse verband, verwandelte sich oft plötzlich ihre träge Natur in starre Unermüdlichkeit und seltene Energie. Die Pfarrerin selbst war eine gute, sanfte Frau, die das mutterlose Mädchen seiner Mutterlosigkeit wegen schnell lieb gewann und, da sie selbst keine Kinder hatte, es gerne um sich sah; und Leonie war gerne dort, denn sie fühlte sich geliebt. Lieber aber war sie noch, wo es minder ruhig herging, denn, ohne selbst lärmend

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/8
Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/8>, abgerufen am 25.04.2024.