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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
ist in der Villa Albani. Venus aber hat einen von beyden Göttinnen
derschiedenen Blick, welchen sonderlich das untere in etwas erhobene Au-
genlied verursachet, wodurch das Liebäugelnde und das Schmachtende in
den sanft geöffneten Augen gebildet wird, welches die Griechen to ugron
nennen: sie ist aber ferne von allen geilen Gebährden der Neueren, weil
die Liebe als ein Beysitzer der Weisheit 1) auch von den besten Künstlern
der Alten angesehen wurde. Diana ist mit allen Reizungen ihres Ge-
schlechts begabt, ohne sich derselben bewußt zu scheinen: denn da sie im
Laufen oder im Gehen vorgestellet ist, so gehet ihr Blick gerade vorwerts,
und in die Weite über alle nahe Vorwürfe hinweg. Sie erscheinet alle-
zeit als Jungfrau, wie diese, mit Haaren auf dem Wirbel gebunden 2),
oder auch lang vom Kopfe; ihr Gewächs ist daher leichter und geschlanker,
als der Juno, und auch als der Pallas: es würde eine verstümmelte Dia-
na unter andern Göttinnen eben so kenntlich seyn, als sie es ist beym Ho-
merus, unter allen ihren schönen Oreaden.

g Allgemeine
Betrachtung
über die Idea-
lische Schön-
heit.

Von den hohen Begriffen in Köpfen der Gottheiten kann alle Welt
sich einen Begriff machen, aus Münzen und geschnittenen Steinen, oder
deren Abdrücken, welche in Ländern zu haben sind, wohin niemals ein
vorzügliches Werk eines Griechischen Meißels gekommen ist. Kaum
reicht ein Jupiter in Marmor an die Majestät desjenigen, welcher auf
Münzen Königs Philippus, Ptolemäus des ersten, und des Pyrrhus zu
Thasus, gepräget ist: der Kopf der Proserpina auf zwo verschiedenen sil-
bernen Münzen des königlichen Farnesischen Musei zu Neapel, übersteiget
alle Einbildung. Die Bildung der Götter war unter allen Griechischen
Künstlern so allgemein bestimmet, daß dieselbe scheinet durch ein Gesetz vor-
geschrieben zu seyn: ein Kopf eines Jupiters auf Münzen in Jonien, oder
von Dorischen Griechen gepräget, ist einem Jupiter auf Sicilianischen

Münzen
1) Eurip. Med. v. 843.
2) conf. Descr. des Pier. gr. du Cab. de Stosch, p. 75. 76.

I Theil. Viertes Capitel.
iſt in der Villa Albani. Venus aber hat einen von beyden Goͤttinnen
derſchiedenen Blick, welchen ſonderlich das untere in etwas erhobene Au-
genlied verurſachet, wodurch das Liebaͤugelnde und das Schmachtende in
den ſanft geoͤffneten Augen gebildet wird, welches die Griechen τὸ ὑγρὸν
nennen: ſie iſt aber ferne von allen geilen Gebaͤhrden der Neueren, weil
die Liebe als ein Beyſitzer der Weisheit 1) auch von den beſten Kuͤnſtlern
der Alten angeſehen wurde. Diana iſt mit allen Reizungen ihres Ge-
ſchlechts begabt, ohne ſich derſelben bewußt zu ſcheinen: denn da ſie im
Laufen oder im Gehen vorgeſtellet iſt, ſo gehet ihr Blick gerade vorwerts,
und in die Weite uͤber alle nahe Vorwuͤrfe hinweg. Sie erſcheinet alle-
zeit als Jungfrau, wie dieſe, mit Haaren auf dem Wirbel gebunden 2),
oder auch lang vom Kopfe; ihr Gewaͤchs iſt daher leichter und geſchlanker,
als der Juno, und auch als der Pallas: es wuͤrde eine verſtuͤmmelte Dia-
na unter andern Goͤttinnen eben ſo kenntlich ſeyn, als ſie es iſt beym Ho-
merus, unter allen ihren ſchoͤnen Oreaden.

γ Allgemeine
Betrachtung
uͤber die Idea-
liſche Schoͤn-
heit.

Von den hohen Begriffen in Koͤpfen der Gottheiten kann alle Welt
ſich einen Begriff machen, aus Muͤnzen und geſchnittenen Steinen, oder
deren Abdruͤcken, welche in Laͤndern zu haben ſind, wohin niemals ein
vorzuͤgliches Werk eines Griechiſchen Meißels gekommen iſt. Kaum
reicht ein Jupiter in Marmor an die Majeſtaͤt desjenigen, welcher auf
Muͤnzen Koͤnigs Philippus, Ptolemaͤus des erſten, und des Pyrrhus zu
Thaſus, gepraͤget iſt: der Kopf der Proſerpina auf zwo verſchiedenen ſil-
bernen Muͤnzen des koͤniglichen Farneſiſchen Muſei zu Neapel, uͤberſteiget
alle Einbildung. Die Bildung der Goͤtter war unter allen Griechiſchen
Kuͤnſtlern ſo allgemein beſtimmet, daß dieſelbe ſcheinet durch ein Geſetz vor-
geſchrieben zu ſeyn: ein Kopf eines Jupiters auf Muͤnzen in Jonien, oder
von Doriſchen Griechen gepraͤget, iſt einem Jupiter auf Sicilianiſchen

Muͤnzen
1) Eurip. Med. v. 843.
2) conf. Deſcr. des Pier. gr. du Cab. de Stoſch, p. 75. 76.
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[166/0216] I Theil. Viertes Capitel. iſt in der Villa Albani. Venus aber hat einen von beyden Goͤttinnen derſchiedenen Blick, welchen ſonderlich das untere in etwas erhobene Au- genlied verurſachet, wodurch das Liebaͤugelnde und das Schmachtende in den ſanft geoͤffneten Augen gebildet wird, welches die Griechen τὸ ὑγρὸν nennen: ſie iſt aber ferne von allen geilen Gebaͤhrden der Neueren, weil die Liebe als ein Beyſitzer der Weisheit 1) auch von den beſten Kuͤnſtlern der Alten angeſehen wurde. Diana iſt mit allen Reizungen ihres Ge- ſchlechts begabt, ohne ſich derſelben bewußt zu ſcheinen: denn da ſie im Laufen oder im Gehen vorgeſtellet iſt, ſo gehet ihr Blick gerade vorwerts, und in die Weite uͤber alle nahe Vorwuͤrfe hinweg. Sie erſcheinet alle- zeit als Jungfrau, wie dieſe, mit Haaren auf dem Wirbel gebunden 2), oder auch lang vom Kopfe; ihr Gewaͤchs iſt daher leichter und geſchlanker, als der Juno, und auch als der Pallas: es wuͤrde eine verſtuͤmmelte Dia- na unter andern Goͤttinnen eben ſo kenntlich ſeyn, als ſie es iſt beym Ho- merus, unter allen ihren ſchoͤnen Oreaden. Von den hohen Begriffen in Koͤpfen der Gottheiten kann alle Welt ſich einen Begriff machen, aus Muͤnzen und geſchnittenen Steinen, oder deren Abdruͤcken, welche in Laͤndern zu haben ſind, wohin niemals ein vorzuͤgliches Werk eines Griechiſchen Meißels gekommen iſt. Kaum reicht ein Jupiter in Marmor an die Majeſtaͤt desjenigen, welcher auf Muͤnzen Koͤnigs Philippus, Ptolemaͤus des erſten, und des Pyrrhus zu Thaſus, gepraͤget iſt: der Kopf der Proſerpina auf zwo verſchiedenen ſil- bernen Muͤnzen des koͤniglichen Farneſiſchen Muſei zu Neapel, uͤberſteiget alle Einbildung. Die Bildung der Goͤtter war unter allen Griechiſchen Kuͤnſtlern ſo allgemein beſtimmet, daß dieſelbe ſcheinet durch ein Geſetz vor- geſchrieben zu ſeyn: ein Kopf eines Jupiters auf Muͤnzen in Jonien, oder von Doriſchen Griechen gepraͤget, iſt einem Jupiter auf Sicilianiſchen Muͤnzen 1) Eurip. Med. v. 843. 2) conf. Deſcr. des Pier. gr. du Cab. de Stoſch, p. 75. 76.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/216>, abgerufen am 29.03.2024.