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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
bildet uns der große Dichter den Vater der Götter, welcher allein durch
das Winken seiner Augenbranen, und durch das Schütteln seiner Haare,
den Himmel bewegte; und so ungerührt von Empfindungen sind die meh-
resten Bilder der Götter; daher die hohe Schönheit dem angeführten Ge-
nius in der Villa Borghese nur in diesem Zustande zu geben war. Da
aber im Handeln und Wirken die höchste Gleichgültigkeit nicht statt findet,
und Göttliche Figuren Menschlich vorzustellen sind, so konnte auch in die-
sen der erhabenste Begriff der Schönheit nicht beständig gesuchet und er-
halten werden. Aber der Ausdruck wurde derselben gleichsam zugewäget,
und die Schönheit war bey den alten Künstlern die Zunge an der Waage
des Ausdrucks, und als die vornehmste Absicht derselben, wie das Cimbal
in einer Music, welches alle andere Instrumente, die jenes zu übertäuben
scheinen, regieret.

a Im Va-
ticanischen
Apollo.

Der Vaticanische Apollo sollte diese Gottheit vorstellen, in Unmuth
über den Drachen Python, welchen er mit seinem Pfeile erlegte, und zu-
gleich in Verachtung dieses für einen Gott geringen Sieges. Der weise
Künstler, welcher den schönsten der Götter bilden wollte, setzte nur den
Zorn in der Nase, wo der Sitz derselben, nach den alten Dichtern, ist,
die Verachtung auf den Lippen: diese hat er ausgedrücket, durch die hin-
aufgezogene Unterlippe, wodurch sich zugleich das Kinn erhebet, und jener
äußert sich in den aufgebläheten Nüsten der Nase.

b Von dem
Stande der
Figuren
Männlicher
Gottheiten.

Stand und Handlungen sind allezeit der Würdigkeit der Götter ge-
mäß, und man findet keine Gottheit, als etwa den Bacchus, und einen
geflügelten Genius in der Villa Albani, mit übereinander geschlagenen
Beinen stehen, welcher Stand bey jenem ein Ausdruck der Weichlichkeit
ist. Ich glaube also nicht, daß diejenige Statue zu Elis, welche mit
übereinandergeschlagenen Beinen stand, und sich mit beyden Händen an
einen Spieß lehnete, einen Neptunus vorgestellet, wie man den Pau-

sanias

I Theil. Viertes Capitel.
bildet uns der große Dichter den Vater der Goͤtter, welcher allein durch
das Winken ſeiner Augenbranen, und durch das Schuͤtteln ſeiner Haare,
den Himmel bewegte; und ſo ungeruͤhrt von Empfindungen ſind die meh-
reſten Bilder der Goͤtter; daher die hohe Schoͤnheit dem angefuͤhrten Ge-
nius in der Villa Borgheſe nur in dieſem Zuſtande zu geben war. Da
aber im Handeln und Wirken die hoͤchſte Gleichguͤltigkeit nicht ſtatt findet,
und Goͤttliche Figuren Menſchlich vorzuſtellen ſind, ſo konnte auch in die-
ſen der erhabenſte Begriff der Schoͤnheit nicht beſtaͤndig geſuchet und er-
halten werden. Aber der Ausdruck wurde derſelben gleichſam zugewaͤget,
und die Schoͤnheit war bey den alten Kuͤnſtlern die Zunge an der Waage
des Ausdrucks, und als die vornehmſte Abſicht derſelben, wie das Cimbal
in einer Muſic, welches alle andere Inſtrumente, die jenes zu uͤbertaͤuben
ſcheinen, regieret.

α Im Va-
ticaniſchen
Apollo.

Der Vaticaniſche Apollo ſollte dieſe Gottheit vorſtellen, in Unmuth
uͤber den Drachen Python, welchen er mit ſeinem Pfeile erlegte, und zu-
gleich in Verachtung dieſes fuͤr einen Gott geringen Sieges. Der weiſe
Kuͤnſtler, welcher den ſchoͤnſten der Goͤtter bilden wollte, ſetzte nur den
Zorn in der Naſe, wo der Sitz derſelben, nach den alten Dichtern, iſt,
die Verachtung auf den Lippen: dieſe hat er ausgedruͤcket, durch die hin-
aufgezogene Unterlippe, wodurch ſich zugleich das Kinn erhebet, und jener
aͤußert ſich in den aufgeblaͤheten Nuͤſten der Naſe.

β Von dem
Stande der
Figuren
Maͤnnlicher
Gottheiten.

Stand und Handlungen ſind allezeit der Wuͤrdigkeit der Goͤtter ge-
maͤß, und man findet keine Gottheit, als etwa den Bacchus, und einen
gefluͤgelten Genius in der Villa Albani, mit uͤbereinander geſchlagenen
Beinen ſtehen, welcher Stand bey jenem ein Ausdruck der Weichlichkeit
iſt. Ich glaube alſo nicht, daß diejenige Statue zu Elis, welche mit
uͤbereinandergeſchlagenen Beinen ſtand, und ſich mit beyden Haͤnden an
einen Spieß lehnete, einen Neptunus vorgeſtellet, wie man den Pau-

ſanias
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[168/0218] I Theil. Viertes Capitel. bildet uns der große Dichter den Vater der Goͤtter, welcher allein durch das Winken ſeiner Augenbranen, und durch das Schuͤtteln ſeiner Haare, den Himmel bewegte; und ſo ungeruͤhrt von Empfindungen ſind die meh- reſten Bilder der Goͤtter; daher die hohe Schoͤnheit dem angefuͤhrten Ge- nius in der Villa Borgheſe nur in dieſem Zuſtande zu geben war. Da aber im Handeln und Wirken die hoͤchſte Gleichguͤltigkeit nicht ſtatt findet, und Goͤttliche Figuren Menſchlich vorzuſtellen ſind, ſo konnte auch in die- ſen der erhabenſte Begriff der Schoͤnheit nicht beſtaͤndig geſuchet und er- halten werden. Aber der Ausdruck wurde derſelben gleichſam zugewaͤget, und die Schoͤnheit war bey den alten Kuͤnſtlern die Zunge an der Waage des Ausdrucks, und als die vornehmſte Abſicht derſelben, wie das Cimbal in einer Muſic, welches alle andere Inſtrumente, die jenes zu uͤbertaͤuben ſcheinen, regieret. Der Vaticaniſche Apollo ſollte dieſe Gottheit vorſtellen, in Unmuth uͤber den Drachen Python, welchen er mit ſeinem Pfeile erlegte, und zu- gleich in Verachtung dieſes fuͤr einen Gott geringen Sieges. Der weiſe Kuͤnſtler, welcher den ſchoͤnſten der Goͤtter bilden wollte, ſetzte nur den Zorn in der Naſe, wo der Sitz derſelben, nach den alten Dichtern, iſt, die Verachtung auf den Lippen: dieſe hat er ausgedruͤcket, durch die hin- aufgezogene Unterlippe, wodurch ſich zugleich das Kinn erhebet, und jener aͤußert ſich in den aufgeblaͤheten Nuͤſten der Naſe. Stand und Handlungen ſind allezeit der Wuͤrdigkeit der Goͤtter ge- maͤß, und man findet keine Gottheit, als etwa den Bacchus, und einen gefluͤgelten Genius in der Villa Albani, mit uͤbereinander geſchlagenen Beinen ſtehen, welcher Stand bey jenem ein Ausdruck der Weichlichkeit iſt. Ich glaube alſo nicht, daß diejenige Statue zu Elis, welche mit uͤbereinandergeſchlagenen Beinen ſtand, und ſich mit beyden Haͤnden an einen Spieß lehnete, einen Neptunus vorgeſtellet, wie man den Pau- ſanias

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/218>, abgerufen am 24.04.2024.